FACHFORUM

(Kultur-)Kritik oder (Psycho-)Therapie: Freuds Psychotherapie

von Hannjürn Weichert

"Der psychoanalytische Lehrbestand ist nicht halb so sicher, wie es sich die Analytiker ...stets von neuem gegen Patienten und Gegner ...vormachen ..." (Kunz)

Nicht erst 100 Jahre nach der Veröffentlichung von Freuds "Traumdeutung"1 scheinen die weltanschaulichen Implikationen der Psychoanalyse obsolet. Die tiefenpsychologische Deutung psychischen Geschehens gründete in der doppelten Moral des "fin de siècle" der untergehenden "bürgerlichen Gesellschaft" und ihrer Überbetonung des Sexuellen. Dabei gründete die Analyse der aus dem Unterbewusstsein wirkenden gestörten Libido in der mythischen Ödipus-Konstellation. Beides, die bürgerliche Moral, wie die familiäre Konstellation (Sexualität) entspricht längst nicht mehr den soziologischen Tatsachen und religiös-moralischen Vorstellungen des modernen Menschen. Und selbst Freuds "revolutionäre methodische Wendung" vom materialistischen Verständnis der Bewusstseinsakte als bloße Funktion der neuronalen Prozesse zur rein psychologischen Deutung psychischen Geschehens scheint durch die Fortschritte der Neuro-Sciences obsolet. Aber schon Jaspers harsche Kritik an der Psychoanalyse als bloße "Popularpsychologie" bzw. als "ein verwirrendes Durcheinander psychologischer Theorien" und "weltanschauliche Glaubensbewegung" charakterisierte Freuds Psychologie als eine Mischung aus Kultur-Kritik und therapeutischer "Bewegung".2 Auch in Freuds Selbstverständnis ist die Psychoanalyse ein wissenschaftliches "Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge" und eine "Behandlungsmethode" zugleich. "Die Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie sind: die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung der Sexualität und des Ödipuskomplexes." (Freud)

Freilich konnten die Hoffnungen darauf, die Lücke zwischen Psyche und Soma durch die Psychoanalyse schließen zu können, nicht erfüllt werden. Denn nachdem Freud zu der Überzeugung gelangt war, dass die rein physiologische Ableitung der die neuronalen Prozesse begleitenden Bewusstseinsakte, – was seine ursprüngliche Absicht war –, unmöglich sei, dass uns also die uns unmittelbar gegebenen Bewusstseinsakte "durch keinerlei Beschreibung näher gebracht werden können", und fortan die "vorgeblichen somatischen Begleitvorgänge (selbst) für das eigentliche Psychische" hielt, – das zwar "an sich" unbewusst ablaufe, und deshalb wie in den Naturwissenschaften nicht direkt erkennbar sei, aber durch "gehäufte und gesiebte Erfahrung" Schlüsse auf die Gesetzmäßigkeiten des psychischen Geschehens zulasse –,3 waren die somatischen Prozesse von den "rein" psychologischen Mechanismen der Sublimation und Verdrängung, wie der Übertragung von einem un-überbrückbaren metaphysischen Graben getrennt. Die so fortexistierende erkenntnistheoretische "Lücke" zwischen den neuro-humoralen Prozessen des Nervensystems und der Unmittelbarkeit unserer Bewusstseinsakte entsprach der damals vorherrschenden Auffassung vom Psycho-Physischen-Parallelismus.

Der Kern der Freudschen Psychologie ist die Vorstellung vom Psychischen als eines unbewusst wirkenden nicht-somatischen "Apparates", dessen störungsfreie Funktionsweise von bestimmten psychischen Mechanismen der Wunschversagung bzw. Wunschverschiebung abhängt. Dabei unterstellt Freud analog zu der traditionellen christlich-jüdischen onto-theologischen Trinität von Körper, Seele und Geist die quasi onto-(psycho)-logische von Es, Ich und Über-Ich, von deren erfolgreicher Abgrenzung voneinander bzw. gegenseitiger Bereichsverletzung die psychische "Gesundheit" bzw. "Krankheit" abhängt. Zur Neurose kommt es, wenn das Realitätsprinzip versagt, und das Ich den Kontakt zur Außenwelt verliert. Die Ökonomie des psychischen Apparates, die Triebdynamik, beruht demnach auf der Harmonie von Es, Ich und Über-Ich, von Psyche und Außenwelt. Aber schon Freuds eigene definitorische Abgrenzung der drei Teile des "psychischen Apparates" voneinander ist problematisch. Denn während das Es "von der Außenwelt abgeschnitten" sei, stehe das Ich, – das als ursprünglicher Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren habe –, als zwischen Es und Außenwelt vermittelnde Instanz "in direktem Kontakt mit der Außenwelt" (Realitätsprinzip). Und das Über-Ich repräsentiere als die religiös-moralische Kontroll-Instanz – das Gewissen – das Ich bzw. leistet seine kulturelle Identifikation bzw. Integration. Wobei Freuds Vorstellung von der "normalen" Funktionsweise des "psychischen Apparates" notwendig statisch ausfällt, indem er beim Gesunden fortwährende stabile psychische Zustände unterstellt, "in denen die Grenzen des Ichs gegen das Es durch Widerstände (Gegenbesetzungen) gesichert, unverrückt (blieben) und das Über-Ich nicht vom Ich unterschieden wird, weil beide einträchtig (miteinander) arbeiten". Während dagegen im psychotischen Zustand, wie etwa auch im Schlaf, "der Inhalt des Es Aussicht hat, ins Ich und zum Bewusstsein einzudringen, und das Ich sich gegen diesen Einbruch neuerlich zur Wehr setzt". (Freud) Deshalb ist auch die "Traumdeutung" der Ausgangspunkt der Freudschen Analyse. Freuds Definition des Es als von der Außenwelt abgeschlossen und des Ich als ursprünglicher Teil des Es macht die Abgrenzung von Ich und Es, von Innen und Außen, ebenfalls problematisch. Wie es keine rein endogenen (physiologischen) Prozesse gibt, die nicht in Kontakt mit der Außenwelt stünden, gibt es keine rein exogenen (psycho-logischen) Prozesse, die nicht in Kontakt mit dem endogenen Grund des Ichs verlaufen. Während auf der anderen Seite die Abgrenzung des Ichs vom Über-Ich durch die Setzung ihrer Übereinstimmung als "Normal-Zustand" problematisch ist. Tatsächlich besteht quasi ein Ungleichgewicht bzw. ein permanente Spannung zwischen den endogenen und exogenen Prozessen, den physiologischen Bedürfnissen bzw. endogenen Trieben und deren psycho-sozialer bzw. kultureller Befriedigung.

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Literatur:
1 In seinen frühen Studien über Hysterie (1895) und der 1900 erschienenen "Traumdeutung", wie den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905) legte Freud bekanntlich um die Jahrhundertwende seine psychoanalytische "Theorie" vor.
2 Jaspers, K., Allg. Psychopathologie, 1946
3 Freud, S., Abriss der Psychoanalyse, 1938
4 nach: Tress, W., Psychosomatische Grundversorgung, 1994, S. 19 f

Anschrift des Verfassers:
Hannjürn Weichert
Hans Vetter Str. 103
79650 Schopfheim



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