Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Heilung eines Blasenleidens

von Gerd Aronowski

Die folgende Kasuistik habe ich aus der alten Literatur entliehen. Ich entdeckte sie in einer Ausgabe der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung aus dem Jahre 1875. Sie ist von Sager, einem schlesischen homöopathischen Arzt, verfasst worden.

Studiert man die homöopathischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, so wird einem sehr schnell klar, welch guten Kenntnisse viele der Homöopathen in der Gründerzeit von der Materia medica hatten. Viele der Textbeiträge bestechen auch einfach nur durch auffallenden Scharfsinn oder große Wortgewandtheit der Autoren. Dagegen scheint einem die heutige Sprache geradezu ein wenig zu verarmen.

Beim Lesen der Beiträge kann man auch erkennen, dass die damaligen homöopathischen Ärzte immer wieder auf großen Widerstand der anderen Mediziner stießen. Auch in unserer Zeit gehört die Homöopathie noch keineswegs zum medizinischen Allgemeingut. Oft wird sie allzu leicht abgelehnt, ohne verstanden zu werden und als unwissenschaftlich abgetan. Schopenhauer sagte einmal:

"Das Wahre und Echte würde leichter in der Welt Raum gewinnen, wenn nicht die, welche unfähig sind es hervorzubringen, zugleich verschworen wären, es nicht aufkommen zu lassen".

Ich glaube, dass die Zukunft der Medizin in der Annäherung und gegenseitigen Akzeptanz beider Medizinalsysteme liegt. Zu einer echten Annäherung können auch wir Homöopathen durch genaue Ausübung unserer Heilkunst und durch genaue Dokumentation unserer Fälle beitragen.
Bei der folgenden Kasuistik handelt es sich nur um eine kurze, aber dennoch recht interessante Fallschilderung:

"J., wohlhabender Landmann, 79 Jahre alt, sonst gesund und wohlgenährt, litt seit 14 Jahren fast ohne Unterbrechung an mehr oder weniger heftigem Harndrang. Der den Kranken von Anfang an behandelnde Physikus des nächsten Ortes erklärte in den ersten Jahren, dass das Leiden theilweise Altersschwäche, da der Kranke schon sehr bejahrt, später dagegen das Leiden zu veraltet sei, um eine Heilung zu ermöglichen. Schließlich wurde dem Kranken ein Versuch mit der Homöopathie vorgeschlagen, und die Behandlung fiel mir im Herbste 1871, als dem nächstwohnenden Arzte, zu.
Der Kranke hatte damals alle zwei Stunden einen Anfall von sehr schmerzhaftem Harndrang, bei welchem sich unter Wimmern und Stöhnen eine mäßige Menge klaren hellen Urins entleerte, begleitet von Drang auf den Mastdarm, wodurch jedesmal wenig weiche, aber sonst normale Fäcalmassen entleert wurden. Da nun kein schwerer Katarrh oder sonst organisches Leiden der Beckentheile vorzuliegen schien, stellte ich eine günstige Prognose, und der Erfolg übertraf meine Erwartung. Ich gab (ein Mittel) in der 30. Potenz, in Wasserauflösung. Schon nach dem ersten Schluck legten sich die Beschwerden und innerhalb von 8 Tagen war das Leiden gänzlich beseitigt, so dass der Mann sich jetzt noch nach drei Jahren des besten Wohlbefindens erfreut."

In nebenstehender Auswertung habe ich die wesentlichen Symptome des Falles erfasst. Es fällt schwer sich aufgrund der Auswertung sogleich für ein Mittel zu entscheiden. Digitalis, Nux vomica und Cantharis scheinen alle in Frage zu kommen.
Das zweifellos interessanteste Symptom in diesem Fall ist wohl der Stuhldrang während des Wasserlassens.
Digitalis scheint deshalb interessant zu sein, da die Blasenbeschwerden bei diesem Mittel häufig durch Vergrößerung der Prostata hervorgerufen werden. Hier haben wir es schließlich mit einem alten Mann zu tun und müssen die Möglichkeit, dass ein solcher Zusammenhang besteht, zumindest im Hinterkopf behalten. Digitalis ist zudem im Kent in der Rubrik schmerzhafter Harndrang mit Stuhldrang zweiwertig aufgeführt.
Nux vomica scheint laut Kent'schem Repertorium bei letztgenanntem Symptom zu führen. Es ist bekannt für seinen häufigen Stuhldrang und für seine spastischen Kontraktionen des Enddarms. Darüber hinaus ist es auch ein wichtiges Blasenmittel.
Für Cantharis spricht der heftige Harndrang und die Schmerzhaftigkeit. Es ist ein Blasenmittel par excellence. Auch bei diesem Mittel finden wir – wenn im Kent auch nur einwertig – den Stuhldrang bei der Blasenentleerung.
Ein Blick in die Arzneimittellehren könnte hier zur Mittelentscheidung helfen und ist in Fällen, in denen durch die Repertorisation ein Mittel nicht ausreichend sicher gewählt werden kann, immer angezeigt.

Nehmen wir den Ausführlichen Symptomenkodex von Jahr zur Hand, so finden wir zur Bestätigung des sonderlichen Symptoms – Stuhldrang beim Wasserlassen – bei Digitalis nur das Symptom: "nach dem Harnflusse, Übelkeit, oder auch Harnverhaltung, Erbrechen und Durchfall." Dies entspricht nicht unserem gesuchten Sachverhalt.

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Literatur:
– Allgemeine Homöopathische Zeitung, Bd. 79, Nr. 26, Hrsg.: Meyer, Dr. V., Leipzig 1875
– Complete Repertory und Kentsches Repertorium, ComRep-Computersoftware Franz Simbürger, Eching
– Hering, C., The guiding symptoms of our materia medica, Vol. 3, 5 und 8, New Delhi 1995
– Kents Repertorium, Band 1-3, Heidelberg 1991
– Nash, E., Leitsymptome in der homöopathischen Therapie, Ulm 1959
– Jahr, G.H.G., Ausführliche Arzneimittellehre, Leipzig 1848, Nachdruck hrsg. v. Bernd von der Lieth, Hamburg

Anschrift des Verfassers:
Gerd Aronowski
Gottfried-von-Herder-Weg 13
78464 Konstanz



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