FACHFORUM

Psychosomatisch fehleingeschätzte Erkrankungen

Kurz und prägnant

von Michael Martin

Bei einem nicht unerheblichen Anteil unserer „vegetativ überlagerten, depressiven, neurotischen, antriebsschwachen oder verhaltensauffälligen“ Patienten liegen bei genauer Betrachtung Störungen zu Grunde, die sich labordiagnostisch erfassen lassen und damit einer wirksamen Therapie zuführen lassen. Jeder Kandidat für Psychopharmaka und/oder Psychotherapie, hat das Recht, daß neben der üblichen Abklärung hormoneller Erkrankungen die folgenden Störungen korrekt ausgeschlossen werden:

– Glutensensibilisierung. Nur etwa 40% der Patienten mit einer Glutenunverträglichkeit (Zöliakie, einheimische/potentielle Sprue) bieten das klassische Beschwerdebild mit Gewichtsabnahme, Durchfall, Blähungen und unklare Anämie, während 60% atypische Verlaufsformen zeigen. Insbesondere eine Vielzahl psychischer Beschwerden gibt immer wieder Anlaß zu Fehlinterpretationen. So erhielten einer Umfrage zufolge 32% der Patienten mit einheimischer Sprue vor der richtigen Diagnose Psychopharmaka. 14% unterzogen sich einer Psychotherapie. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, daß zöliakie-assoziierte Neuropathien nicht zwingend auf malabsorptionsbedingte Nährstoffdefizite zurückzuführen sind. Nur ein Teil der Patienten entwickelt so ausgeprägte Defizite (z.B. von Vitamin E, Folsäure und Vitamin B6), daß sich damit Nervenschäden erklären ließen. Vielmehr werden neurotoxische Wirkungen der zirkulierenden Gliadin-Antikörper vermutet. Darüber hinaus könnten im Gluten vorkommende Polypeptide, die aufgrund der pathologisch erhöhten Darmwandpermeabilität absorbiert werden, direkte Störungen im zentralen Nervensystem hervorrufen. Fazit: bei Patienten mit neurologischen Störungen oder dementen Erscheinungen ist ein Screening auf Gliadin-Antikörper dringend anzuraten. Diese Aufforderung muß zwingend für den Bereich der unklaren psychosomatischen Störungen erweitert werden, vor allem wenn Symptome wie Depressionen, extreme Nervosität, Angstzustände und massive Erschöpfung auffallen. Einige Autoren beschäftigen sich mit den möglichen Zusammenhängen zwischen Gliadinreaktionen und der Entstehung schizophrenie-ähnlicher Symptome bei prädisponierten Personen. Hier werden allerdings andere Zusammenhänge vermutet. Es wäre denkbar, daß bei Hydrolyse der Gliadin-Fraktion des Getreideproteins in Gegenwart von Pepsin Peptide entstehen, die in ihrer Struktur endogenen Opiat-Peptiden (Endorphinen) ähnlich sind. Es konnte gezeigt werden, daß diese Opiat-Peptide vom Verdauungstrakt in die Blutbahn übertreten, wobei ihre Struktur in soweit erhalten bleibt, daß sie opioid-ähnliche Aktivität besitzen. Der Eintritt großer Moleküle, die aus der Pepsin-/Glutenreaktion hervorgehen, in die Blutzirkulation gelangen und die Blut-Hirnschranke überwinden, sind durch Antikörper-Titer und radioaktive Markierung der Moleküle nachgewiesen worden. Es konnte gezeigt werden, daß Patienten mit objektivierter Schizophrenie positiv auf das Weglassen von glutenhaltigen Ceralien aus der Nahrung reagierten.

Wichtige Hinweise: abdominelle Symptome, Blähungen, Blässe, Anämie.
Diagnostik: 1. Bestimmung der Anti-Gliadin-sIgA und Anti-Transglutaminase im Stuhl.
2. Gliadin-Antikörper im Serum. 3. Endoskopie/Schleimhautbiopsie

– Maskierte Allergien: Eine Allergie kann sich auf vielfältige Weise zum Ausdruck bringen. Auch mentale und seelische Symptome insbesondere auf Nahrungsmittelallergien zurückzuführen sein. Ein häufig dominierendes Symptom ist Müdigkeit und Antriebsschwäche, latente Angstzustände häufig gepaart mit körperlichen Symptomen wie Herzrasen. Bei Kindern beobachtet man sehr häufig Verhaltens- und Lernstörungen. In einem bei jedem Patienten individuellen Zeitablauf wechselt der körperliche, geistige und/oder seelische Zustand nach Kontakt mit einem allergieauslösenden Nahrungsmittel.

Wichtige Hinweise: Stimmungsschwankungen, Konzentrationsschwäche, Müdigkeit nach Mahlzeiten (schwierig zu beurteilen bei den häufig vorkommenden verzögerten Nahrungsmittelallergien).
Diagnostik: 1) Unspezifische Diagnostik. Hinweise durch Erhöhung der Stuhlparameter alpha-1-Antitrypsin, Lsyozym und/oder PMN-Elastase sowie ein erniedrigtes sekretorisches IgA.
2) Spezifische Diagnostik mittels Nahrungsmittel-Screenings (IgE, IgG4, Lymphozytentransformationstest).

– Mikronährstoff-Defizite: Spurenelemente, Mineralstoffe und Vitamine spielen auch im Bereich der Neurotransmitterbildung sowie zur hormonellen Regulation eine essentielle Rolle. Eine unzureichende Versorgung z.B. mit Magnesium, Zink, Jod und/oder Vitamin B6 kann zu einer auffälligen psychovegetativen Instabilität führen, die sich in Form von unspezifischem Unwohlsein, Streßintoleranz, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigt.

Wichtige Hinweise: Lidzucken, Muskelzucken und –krämpfe, Nervosität, Herzsymptome, latente Schilddrüsenstörungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Infektanfälligkeit, Veränderungen an Haut, Haar und Nägeln.
Diagnose: Mikronährstoff-Diagnostik aus Vollblut, Plasma und Urin.

– Hypoglykämie-Syndrom: Die in unseren Breiten übliche Fehlernährung führt nicht nur zu einem rapiden Anstieg von Herz-Kreislauferkrankungen, sondern bei vielen Patienten (und Kindern) aufgrund des exorbitanten Zuckerverbrauchs zu einer Hyperinsulinämie (Reaktion auf die Kohlenhydratmast). Hieraus resultiert ein erhöhter Insulinspiegel mit der Folge einer Unterzuckerung. Da das Gehirn zu 100% auf einen konstanten, nur sehr geringen Absenkungen unterworfenen Blutzuckerspiegel angewiesen ist, können hypoglykämische Entgleisungen empfindliche Gehirnstoffwechselstörungen mit mannigfachen Symptomen nach sich ziehen. Auch hier stehen vegetative und psychische Beschwerden im Vordergrund.

Wichtige Hinweise: Heißhungerattacken, häufig nüchtern, Zuckerabusus, Auslassen von Hauptmahlzeiten, Streß, plötzliches Gähnen, plötzliche Stimmungsschwankungen, Schwindel, Zitterhunger.
Diagnostik: Nüchtern-Blutzucker-Bestimmung; Blutzucker-Tagesprofil, 5-Stunden Glucosetoleranz-Test, Nüchtern-Insulinspiegel.

Psychosomatisch oder somatopsychisch?

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Quellen:
Martin, M.: Das Hypoglykämiesyndrom; 2. Auflage, Ralf Reglin Verlag, Köln 1996
Martin, M.: Umweltmedizin für Heilpraktiker; Aescura im Verlag Urban & Fischer, München 1996
Martin, M.: Labordiagnostik für die Naturheilpraxis; Aescura im Verlag Urban & Fischer, München 1998
Martin, M.: Gastroenterologische Aspekte in der Naturheilkunde; Ralf Reglin Verlag Köln;

Anschrift des Verfassers:
Michael Martin
Schöne Aussicht 14
65232 Taunusstein



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