RHEUMATISCHER FORMENKREIS

Wirbelsäulenerkrankungen

von Michael Franzen

Die Wirbelsäule ist als Säule zwischen Becken und Kopf die Stütze unseres Körpers. Doch sie leistet weit mehr als eine Säule. Sie ist nicht nur extrem belastbar und stabil, sondern auch beweglich und flexibel und schützt das Rückenmark und die Spinalnervenwurzeln.

Abb. 1
a) physiologische Krümmung der WS
b) Zeichen nach Ott und Schober Finger-Boden-Abstand
c) Ausgleich in der Hüfte; Finger-Boden-Abstand normal;
Zeichen nach Ott und Schober auffällig

Anatomie und Funktion

Die Kombination aus Stabilität und Beweglichkeit der Wirbelsäule wird durch ihren komplizierten Aufbau, der in der frühen Embryonalperiode angelegt wird, gewährleistet. Das erste Achsenorgan des Embryos ist die Chorda dorsalis, die im Verlauf der Wirbelsäulenentwicklung als Leitstruktur dient und von der bei der Geburt nur noch einzelne Zellen in den Bandscheiben vorhanden sind. Störungen in der Anlage der Chorda dorsalis können Fehlbildungen der Wirbelsäule bedingen. Bereits in der vierten Entwicklungswoche des Embryo beginnen sogenannte Mesenchymzellen die Chorda dorsalis wie eine Säule, die aus einzelnen Segmenten, den Sklerotomen zusammengesetzt ist, zu umhüllen. Die unteren Teile eines jeden Sklerotoms verbinden sich jeweils mit den oberen Anteilen des benachbarten Sklerotoms und bilden so die Vorstufen der Wirbelkörper. Diese beginnen ab der sechsten Embryonalwoche zu verknorpeln und gleichzeitig entwickeln sich die Vorstufen der Bandscheiben aus Teilen der Chorda dorsalis und der oberen Sklerotomanteile. Um den dritten Entwicklungsmonat beginnt die Verknöcherung der Wirbel in drei Knochenkernen, einem im Wirbelkörper und je einem in den zwei Wirbelbögen. Vollständig verknöchert sind die Wirbel erst mit dem 25. Lebensjahr.

Die Wirbelsäule besteht normalerweise aus insgesamt 33 Wirbeln. Sieben Halswirbel, zwölf Brustwirbel und fünf Lendenwirbel. Der nach unten hin zunehmenden Belastung werden die Wirbel immer größer, wobei die Knochendichte gleich ist. Die fünf Kreuzwirbel und drei Steißwirbel sind einzeln angelegt, verschmelzen aber bis zum Ende der Pubertät zum Kreuz- und Steißbein. Als Normvarianten können allerdings auch 32 oder 34 Wirbel auftreten. Eine Verschmelzung des fünften Lendenwirbels mit dem Kreuzbein bezeichnet man als Sakralisation, bei einer Lumbalisation dagegen verschmilzt der erste Kreuzbeinwirbel nicht mit dem restlichen Kreuzbein.

Die Wirbel sind zum einen über die zwischen den einzelnen Wirbelkörpern liegenden Bandscheiben, die aus einem innen liegend gallertigen Kern, dem Nucleus pulposus, und aus einem außen liegenden faserknorpeligem Ring, dem Anulus fibrosus, zusammengesetzt sind, verbunden. Zum anderen bestehen über die Wirbelgelenke echte Gelenkverbindungen zwischen den Wirbeln. Die Bandscheiben werden nicht über Blutgefäße, sondern nur durch Diffusion versorgt.

Die Wirbelsäule wird durch zahlreiche Bänder stabilisiert. Das vordere Längsband hemmt die Streckung, das hintere Längsband, das Ligamentum interspinale und das Ligamentum supraspinale hemmen die Beugung. Das hintere Längsband sichert außerdem die Bandscheiben nach hinten, weshalb ein Bandscheibenvorfall wesentlich häufiger zur Seite als zur Mitte hin auftritt. Das bereits bei Ruhestellung der Wirbelsäule gespannte Ligamentum flavum unterstützt die Aufrichtung aus der Beugung.

In der Sagittalebene ist die Wirbelsäule physiologischer Weise doppelt s-förmig gekrümmt. Die Hals- und Lendenwirbelsäule ist konkav gekrümmt, was als Lordose, die Brustwirbelsäule und das Kreuzbein sind konvex gekrümmt, was als Kyphose bezeichnet wird.

Untersuchung

Die klinische Untersuchung setzt sich aus der Erhebung der Krankengeschichte, der Inspektion, Palpation, einer neurologischen Untersuchung und einer Funktionsprüfung zusammen.

Bei allen Patienten, die sich mit Beschwerden im Rücken vorstellen, ist eine ausführliche Anamnese von großer Bedeutung. Informationen über die Art der Beschwerden, Dauer, Qualität und Intensität der Schmerzen, neurologische Ausfälle können wichtige Hinweise auf die Art der Erkrankung liefern.

Bei der Untersuchung der Wirbelsäule lässt man den Patienten sich zunächst bis auf die Unterwäsche entkleiden. Patienten mit einer eingeschränkten Beweglichkeit haben Schwierigkeiten, sich das Hemd auszuziehen oder sich zum Ausziehen der Schuhe nach vorne zu beugen.

Bei der Inspektion achtet man zunächst auf Asymmetrien, ob die Schultern und die Beckenkämme gleich hoch stehen, die Taillendreiecke asymmetrisch sind, ob ein Rippenbuckel oder ein Lendenwulst vorliegt und ob Muskeln im Seitenvergleich atrophisch wirken. Die Symmetrie der gesamten Wirbelsäule prüft man, indem man ein Lot vom Dornfortsatz des siebten Halswirbels in die Rima ani fällt.

Bei der Palpation sucht man nach Verspannungen der Muskeln, klopft die Wirbelsäule ab und achtet auf Schmerzen.

Mit einer orientierenden neurologischen Untersuchung verschafft man sich einen Überblick über die wichtigsten Reflexe und Störungen der Sensibilität. Die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte wird getrennt begutachtet, wobei bei der HWS die Vor- und Rückneigung, die Drehung nach links und rechts und die Seitwärtsneigung des Kopfes beurteilt werden.

Bei der Überprüfung der Seitneigung und der Rotation des Rumpfes muss der Untersucher darauf achten, dass das Becken nicht mitbewegt wird. Das Zeichen nach Schober (für die Lendenwirbelsäule) und das Zeichen nach Ott (für die Brustwirbelsäule) geben Auskunft über die Aufklappbarkeit der Wirbelsäule. Der Finger-Boden-Abstand alleine ist nicht aussagekräftig, da eine mangelnde Beweglichkeit der Wirbelsäule in der Hüfte ausgeglichen werden kann (s. Abb. 1).

Bei Verdacht auf eine Erkrankung der Wirbelsäule sollten immer auch Schulter und Hüfte mituntersucht werden.

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Literaturverzeichnis:
- Krämer: Orthopädie, Springer Berlin 5 1998
- Niethard, Pfeil: Orthopädie, Hippokrates, Stuttgart 3 1997
- Psychrembel, Walter de Gruyter, Berlin 257 1993
- Putz, Pabst: Sobotta, Atlas der Anatomie des Menschen, Urban und Schwarzenberg, München 20 1993
- Rössler, Rüther: Orthopädie, Urban und Schwarzenbergverlag, München 17 1997
- Winkel, Vleeming, Fisher, Meijer, Vroege: Nichtoperative Orthopädie, Fischer, Stuttgart 1 1992

Bildverzeichnis:
Abbildungen 1-9 und 12 aus Rössler, Rüther: Orthopädie, Urban und Schwarzenberg, München 17 1997
Abbildungen 10 und 11 aus Niethard, Pfeil: Orthopädie, Hippokrates, Stuttgart 3 1997

Anschrift des Verfassers:
Michael Franzen
Am Heimbeerschlag 12
80935 München

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