Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.

Sein - Bewusstsein - Sprache

von Andreas Noll

Die Bedeutung des sprachlichen und kulturellen Hintergrundes für das Verstehen der Chinesischen Medizin

Die Traditionelle Chinesische Medizin ist ein Heilsystem, das seine Wurzeln im Jahrtausende alten asiatischen Denken hat und von dort her seine Kraft und Bedeutung schöpft. Die ganzheitlichen, universalistischen Aspekte dieses Denkens haben uns hier im Abendland ganz besonders fasziniert seit die Beschränktheit des westlich-naturwissenschaftlichen und analytischen Denkens immer offenbarer wurde. Ein Grundproblem in der Erarbeitung des und der Auseinandersetzung mit diesem Metier ist jedoch nicht von ungefähr die sprachliche Barriere. Die chinesische Sprache ist von unseren im wesentlichen indogermanischen Sprachen so verschieden, dass es sich lohnt, diesen Aspekt unter dem Gesichtspunkt der chinesischen Medizinphilosophie gründlicher zu betrachten. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Problem der Sprache, insbesondere vor dem Hintergrund des Systems der Wu Xing (5 Wandlungsphasen), die als grundlegendes philosophisches Konzept der Betrachtung des Mikrokosmos Mensch wie des Makrokosmos Umwelt sehr gut geeignet ist.

Die Menschen und ihre Weltsicht in Orient und Occident unterscheiden sich grundlegend. Das westliche Denken, durch Christentum bzw. Monotheismus seit Jahrtausenden geprägt, bildete die Grundlage für die heutige materialistisch-naturwissenschaftlich geprägte Welt. Probleme wurden - insbesondere in den letzten Jahrhunderten - durch analytische Herangehensweise gelöst. Das Detail wurde immer wichtiger als das Ganze.

Die besondere Eigenart der chinesischen Kultur, ihre Geschichte und Philosophie hingegen ist eine grundsätzlich integrative und prozessorientierte Herangehensweise.

Das heißt, dass

- vergangene Ereignisse, die Geschichte, die Vergangenheit grundsätzlich in neue Gedanken und somit in die Gegenwart integriert werden. Die Vergangenheit ist Bestandteil der Gegenwart, sie dient ihr als Basis, als Kern. Neuere Entwicklungen berufen sich auf die Vorläufer, verstehen sich als deren äußerste, aktuellste Erscheinungsform. Anders im Westen, wo die Gegenwart, das Neue, dazu tendiert, das Alte abzulösen, zu isolieren und somit zu desintegrieren. So wie sich der asiatische Mensch als Resultat seiner Ahnen empfindet, diesen verpflichtet ist, so empfindet sich die chinesische Gesellschaft - die alte wie die neue - nur als mehr oder weniger konsequente Weiterentwicklung des Alten. Und als vorübergehendes Endprodukt.

- Geschehnisse als prozesshaft miteinander verknüpft aufgefasst werden. Diese Verknüpfung bezieht sich auf die lineare zeitliche Dimension des Prozesses, eine Auffassung, die die persönliche Relevanz eines aktuellen Geschehens sehr relativiert. Zum anderen werden Geschehnisse zeitlich horizontal verknüpft, indem durch das Beschreiben und Sehen von Analogien ein Bezug hergestellt wird zwischen Dingen, die gleichzeitig, quasi in einem analogen Feld geschehen.

- das chinesische Denken von der Einbeziehung der Umwelt und des Umfeldes lebt. Es ist dadurch charakterisiert, dass kein Aspekt isoliert betrachtet wird, sondern stets als Bestandteil des Ganzen, in das er eingebunden ist.

Das chinesische Denken ist somit integrativ, induktiv-synthetisch, das westliche analytisch, separierend. Im Westen wird das Ganze versucht zu ergründen, indem man die allerkleinsten Details eines Objekts betrachtet. So beim Menschen die Organe, Zellen, Chromosomen bis hin zu den Genen. Im chinesischen Denken ist hingegen das Streben in der Erfassung des Ganzen durch eine Betrachtung seines Umfelds, des größeren Ganzen zu sehen. Ein Objekt lässt seine gesamte Bedeutung, Dimension und seine Funktion erst gewahr werden, wenn es im Zusammenhang mit anderen Objekten innerhalb eines "Feldes" gesehen wird.

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Anschrift des Verfassers:
Andreas Noll
Drakestr. 40
12205 Berlin
E-Mail: a.noll@t-online.de

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