Pflanzen - Heilkunst

Vom mythischen Urbeginn bis zur ersten Materia medica

Die Wurzeln der abendländischen Phytotherapie

von Bernd Hertling

Zuerst das Wort, dann die Pflanze ...

Im Anfang war das Wort, kann man im Johannesevangelium lesen, und das Wort war bei Gott.

Auch wenn dem altgriechischen Begriff logos (lógos) mehrere Bedeutungen zukommen, neben `Rechnung' und `Rechenschaft' auch `Sinn', `Vernunft'; zuletzt wird es doch immer wieder mit `Wort', `Rede' übersetzt. Genaugenommen bedeutet es am Anfang aber `das Sprechen' - und wenn wir in der Zeit weiter zurückgehen, wesentlich weiter, in die frühgriechische Epoche, dann stoßen wir auf den berühmten Ausspruch des Asklepios, welcher nichts weniger als ein Kulturheros war, gilt er doch als der Begründer des Ärztestandes, welcher sagt: "Zuerst das Wort, dann die Pflanze und dann erst das Eisen." Wir kennen dieses Zitat als eine Verhältnismäßigkeitsregel, dergestalt dass am Anfang einer Therapie das Wort stehen soll, die Hinlenkung zum lógos im Sinne der Vernunft, also. Der Patient soll mit Hilfe des Wortes `zur Vernunft gebracht werden' soll aus seiner ihm schadenden Lebenshaltung heraus zu einer ihm gemäßen, welche der Gesundung dienlicher sein müsste, bewegt werden. Doch dieses Denken ist bereits klassisches Griechenland, hier klingt bereits der Vater der rationalen Therapie, Hippokrates (460 - 375 v.Chr.) an. Jene Zeit, als der sagenumwobene Asklepios lebte - oder auch nicht, wir wissen es nicht1) - pflegte andere Vorstellungen vom Wort. Das Wort war zu dieser Zeit mehr ein (Rhema), ein Zauberspruch, ein vom gottergriffenen Medium ausgestoßenes, Lallen, welches erst noch der Interpretation bedurfte. Was uns heute wieder mehr in den Bann schlägt als die für viele ausgediente Vernunft ist genau dieses irrationale Element, der Tanz und das Singen der Schamanen.

1)Vgl.: "Ob Homer lebte ist ungewiss, dass er blind war ist sicher!" Wie so oft weiß man über eine Person, deren Existenz keineswegs belegt ist erstaunlich gut Bescheid, während historisch fassbare Persönlichkeiten oftmals mehr Rätsel aufgeben.

Zuerst das Wort, dann die Pflanze, lesen wir - und oft genug beides zusammen! Jeder kennt die magischen Sprüche, die während der Zubereitung eines Heiltrunkes oder einer Salbe aufzusagen sind, damit das (cum grano salis) opus magnum gelinge. Dahinter stand die Vorstellung, dass auch die Pflanze ein beseeltes und geistdurchwebtes Lebewesen sei, welches nicht allein durch die Stofflichkeit wirke. Heute haben wir andere Namen für diese Ebenen: Man spricht dann von Information und Aroma, gemeint ist aber wohl letzten Endes das selbe. Das Wort dient also im vorliegenden Fall zur Invocation des in der Pflanze oder ihren Teilen schlummernden Geist-Seele-Kontinuums. Und auch die Vorstellung, dass man die Ganzheit der Pflanze gefahrlos zerteilen durfte, sofern man über ihr inneres Geheimnis Bescheid wusste, das sie am Ende als erneuerte Ganzheit, als das bewusste "Mehr als die bloße Summe der Teile" wiedererstehen lässt, stammt bereits aus dieser Zeit. Ein Zeugnis hierfür ist der Kult des Weingottes Dionysos, jene mal als wilde zügellose Gottheit der Orgien, mal als verweichlichter Jüngling in Frauenkleidern auftretende Epiphanie des bis dato unbekannten Gottes. In seinen Mysterien wird der Zyklus aus Tod und Auferstehung gefeiert, der Gott wird zerrissen - in einzelne Teile - und ersteht daraus hernach wieder neu, zur geheiligten Ganzheit, als Dionysos Zagreus, der wiedererstandene Zeus. Neben diesem Kult gibt es zahlreiche weitere, die das Heilwerden einer Gottheit mit dem Vegetationszyklus in Verbindung bringen, man denke nur an Persephone und Demeter, an Venus und Adonis, Atthis und Kybele. Gemein ist ihnen allen eine zeitweise Abwesenheit der Gottheit aus der Welt des Lichtes, indem es zu einem Abstieg in die Finsternis des schauerlichen Hades, der lichtlosen Schattenwelt der abgeschiedenen Geister, kommt.

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Literaturverzeichnis:
Bengtson, Hermann: Handbuch der Altertumswissenschaften III/4 5 München, 1980
Bremmer, Jan: Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt, 1997
Detienne, Marcel: Dionysos Göttliche Wildheit, München, 1995
Gemoll: Griechisch-Deutsches Schulhandwörterbuch
Grimal, Pierre: Mythen der Völker I, Frankfurt /M. 1967
Grmek, Mirko. D.(Hg.) Geschichte des medizinischen Denkes I, München, 1996
Kerenyi, Karl: Die Mythologie der Griechen 2 Bde. München, 1983
Kudlien, Fridolf: Der Beginn des medizinischen Denkens bei den Griechen, Zürich 1967
sowie eigene Aufzeichnungen
Anschrift des Verfassers:
Bernd Hertling
Heilpraktiker
Nettelkofenerstr. 1
85567 Grafing

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