BLÄTTER FÜR KLASSISCHE HOMÖOPATHIE

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Kummerfolgen und ihre homöopathischen Behandlungsmöglichkeiten, Fall 2

von Gerd Aronowski

Fall 2: Depression mit starker Rückzugstendenz

Der nun folgende 50-jährige Kranke berichtete in meiner Praxis bei der Erstanamnese, dass er seit einem halben Jahr fast jeglichen Kontakt zur Außenwelt verloren habe. Kontakte seien ihm eigentlich schon immer schwer gefallen, aber durch seine schlechte Stimmung habe er sich dann letztendlich von allem zurückgezogen. Inzwischen habe er regelrechte Furcht vor Menschen. Auslöser für seinen Zustand war, dass es Spannungen in seinem eigenen Handwerksbetrieb gab, welche er irgendwann nicht mehr ertragen konnte und welche ihn dazu veranlassten sich völlig aus dem Betrieb zurückzuziehen. Er empfand innere Freudlosigkeit, war antriebsschwach und hatte erhebliche innere Unruhe, die ihn bei keiner Tätigkeit verweilen ließ. Das Gedächtnis war "miserabel" und er konnte sich "erschreckend schlecht konzentrieren". Morgens kam er "fast gar nicht auf die Beine". Das eh schon schlechte Selbstwertgefühl war nunmehr komplett zusammengebrochen. Er fühlte in sich ein tiefes Einsamkeitsgefühl. In einer Gesprächspause vertraute er mir an, dass manchmal in ihm Gedanken da seien "von einer Brücke zu springen", dass dies aber bisher "nur" Gedanken seien, und dass er sich "noch im Griff" habe. Trost könne er schlecht annehmen, er mache die Dinge allein mit sich aus. Auch berichtete er, dass er seit Jahren nicht mehr geweint habe. Er ging spät zu Bett, da er wusste, das er wegen schwerer Gedanken nicht einschlafen konnte und er erwachte aufgrund der leisesten Geräusche. Mir fiel auf, dass der Patient sich während seines Berichtes ständig selbst beschuldigte sich nicht besser ausdrücken zu können. Dies obwohl ich ihm sagte, dass seine Auskünfte doch eigentlich sehr präzise seien. Er berichtete über die Symptomenschilderung hinaus, dass er am Tag bis zu 2 Liter Kaffee trank. In manchen Fällen ist es wichtig, die Symptome nicht nur allesamt getreu zu sammeln und dann zu repertorisieren, sondern den Fall mit wenigen prägnanten Symptomen auf das Wesentliche zu reduzieren um ein passendes Mittel für die momentane Situation zu finden. In der aufgeführten Repertorisation habe ich aus diesem Grunde das Übergewicht zumeist pathognomonischer Hauptsymptome, die bei einer Depression oft in Erscheinung treten und die nicht in auffallender Intensität vorhanden waren, weggelassen.

Das Erwachen durch leise Geräusche habe ich nicht verwertet, da es mir aufgrund des hohen Kaffeekonsums als fragwürdiges Symptom erschien. Ich empfahl dem Patienten wegen seines schlechten Schlafes den Kaffee abzusetzen. Dies auch deshalb, weil ich mir bei solch exzessivem Gebrauch des Kaffees nicht vorstellen konnte, dass hier irgendein homöopathisches Mittel den gewünschten Erfolg bringen könnte. Da der Patient befürchtete dies nicht zu schaffen, rezeptierte ich für die erste Woche Nux vomica LM 6. Davon waren täglich 5 Tropfen in 200 ml Leitungswasser zu geben und 1 Messlöffel (= 5 ml) einzunehmen. Der "Kaffeentzug" verlief erfolgreich. Ob es auch ohne Nux vomica so gut geklappt hätte, sei an dieser Stelle einmal hingestellt. Sicher war es aus psychologischer Sicht unterstützend und die Therapie im eigentlichen Sinne zumindest nicht störend. Man bedenke, dass das Mittel sich ebenfalls in Fällen von geplantem Suizid durch Herabstürzen bewährt hat! Und eine solch immense Menge an Kaffee konnte aus meiner Sicht nur einen Zustand der Überreiztheit hinterlassen haben, womit zumindest die antidotarische Wirkung des Mittels gerechtfertigt war.

Der Schlaf war etwas besser, aber nicht gut, und ich verordnete bei weitgehend unveränderter Symptomatik nun das Mittel von dem ich mir für den damals aktuellen Befund das beste Resultat erwartete. Der Leser wird an dieser Stelle denken: "Na hier kann man ja nur ein Mittel geben". Und so ganz Unrecht hat er damit auch nicht. Ich verordnete Aurum metallicum in einer LM 6 anfangs mit 1 Tropfen auf 200 ml Wasser. Daraus sollte der Patient 1/2 Messlöffel einnehmen um ja keine Erstverschlechterung heraufzubeschwören. Diese hätte hier nun wirklich fatale Folgen haben können. An dieser Stelle sei bemerkt, dass uns so manches Mal etwas anvertraut wird, bei dem wir abwägen müssen, ob wir die Therapie und unser Mitwissen noch alleine tragen können. Grundsätzlich sollte für uns alle therapeutisch Tätigen die Leitlinie gelten, dass wir uns bei dem geringsten Zweifel daran, ob wir der Situation gewachsen sind, den Fall lieber abgeben und uns nicht mit allzu schwerer Last alleiniger Verantwortung beladen sollten. Denn wie leicht kann aus dem Kummer eines Patienten ein "Therapeutenkummer" werden. Hier hat mich meine Erfahrung belehrt nicht alles alleine in die Hand nehmen zu wollen, sondern mir zu meinem eigenen Wohlergehen und zum Wohle des Patienten mitunter auch durch andere Therapeuten helfen zu lassen. Im vorliegenden Fall war ich durchaus der Meinung die allein homöopathische Behandlung verantworten zu können, da der Patient kooperativ war und für den Fall einer Verschlechterung seines Zustandes Bereitschaft zeigte, sich in ärztliche oder psychotherapeutische Aufsicht zu begeben. Schon nach 14 Tagen trat eine deutlich spürbare Besserung der Stimmung beim Patienten ein. Vor allem die Selbstmordgedanken wichen hoffnungsvolleren Gedanken und den Ansätzen des Patienten, sich durch Freizeitaktivitäten wieder aus seiner Isolation zu bewegen. An dieser Stelle möchte ich nun noch einiges zu dieser wertvollen Arznei anmerken, die nach Hahnemann ein Antipsoricum ist.

Aurum (metallicum)

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Anmerkungen
6 Hahnemann, Samuel, Die chronischen Krankheiten: ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung, Band 2, Heidelberg 1991, S. 218

  • Literaturliste:
    Com Rep ML Repertorisationsprogramm, Franz Simbürger, 84174 Eching
    Farrington, E.A., Klinische Arzneimittellehre, hrsg.v.C.Bartlett, Göttingen 1985
    Gawlik/Buchmann, Homöopathie in der Weltliteratur, Nendeln 1999
    Hering, C., The Guiding Symptoms of our Materia Medica, Volume 6, hrsg.v. Jain Publishers Prt. LTD, Dehi 1995
    Jahr, G.H.G., Ausführliche Arzneimittellehre, hrsg. Von Bernd von der Lieth, Verlag für homöopathische Literatur Hamburg; Nachdruck der Ausgabe 1848
  • Kent, J.T., Kents Arzneimittelbilder: Vorlesungen zur homöopathischen Materia medica, übersetzt von Edward Heits, Heidelberg 1997
  • Keller und Künzli, Kents Repertorium 12. Auflage, Haug, Heidelberg 1991
  • Lippe, A. Grundzüge und charakteristische Symptome der Homöopathischen Materia Medica, Burgdorf Verlag, Göttingen 1992
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  • Morrison, R., Handbuch der homöopathischen Leitsymptome und Bestätigungssymptome, Kai Kröger Verlag, Groß Wittensee 1997
  • Phatak, S.R., Materia Medica of Homeopathic Medicines, Bombay 1982
  • Seideneder, A., Materia medica synthetica, Mitteldetails der homöopathischen Arzneimittel in drei Bänden, Similimumverlag 1999

    Anschrift des Verfasser:
    Gerd Aronowski
    Gottfried-von-Herder-Weg 13
    78464 Konstanz

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  • Der Beitrag wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt mit: Fall 3: Depression und Bettnässen