Füße

In der Welt stehen

Assoziationen zu Füßen und anderen basalen Gegebenheiten

von Norman Thelen

Der moderne und zivilisierte Mensch definiert sich über den Kopf. Kopfarbeit wird nicht nur als ertragreich, auch als erfüllend angesehen. Wer möchte noch selbst Hand anlegen? Geschäfte machen, spekulieren, in abstrakten Größen denken, die übergeordneten Ströme erfassen und kontrollieren (politisch wie wirtschaftlich), den Überblick bewahren, das steht im Kurs. Chefetagen recken sich in Businesstowern in die Höhe, darunter auf der Straße das Fußvolk. Allzu stark und verführerisch ist der Drang nach Freiheit und Höhenflügen. "Nicht ist der Geist, doch ist der Fuß gebunden." (Goethe an Lord Byron). Geraten dabei nicht die Körperteile, die sich am weitesten entfernt vom Sitz unseres Scharfsinns befinden, in Vergessenheit? Sie befinden sich sozusagen am anderen Ende, aber auch gerade am unteren Ende, dem staubigen, von dem wir uns zu distanzieren suchen. Bei aller Kopflastigkeit scheinen wir unsere Füße zu vernachlässigen. Die Sprache bedient sich zwar einiger Metaphern aus dem Assoziationsfeld der Füße. Dabei wird die Bedeutung des "festen Bodens" und des "sicheren Standes" klar herausgestellt, als Basis für Körper und Charakter. Wirkt sich dies aber schon auf das Verhalten gegenüber unseren Füßen aus: Dankbare Anerkennung und Pflege? Das ist fraglich, das Bewusstsein scheint hier nicht sehr weit zu reichen. Spannen wir einen Bogen und betrachten das Thema von verschiedenen "Standpunkten" aus.

"Am Morgen geht es auf vier Füßen, am Mittag auf zwei, und am Abend auf dreien. Doch gerade, wenn es die meisten benutzt, verfügt es über die geringste Kraft und Schnelligkeit. Welche Kreatur ist das?" Mit diesem Rätsel terrorisierte die Sphinx in mythischer Vorzeit die Bewohner von Theben. Wer es nicht lösen konnte, wurde verschlungen, und das waren nicht wenige. Es bedurfte schon eines Ödipus, um auf die naheliegende Lösung zu kommen: "Es ist der Mensch, der als Säugling krabbelt und als Greis einen Gehstock verwendet." Dies brachte Theben die Erlösung vom Ungeheuer und Ödipus den Thron, für ihn leider nur ein weiterer Schritt in der Erfüllung seines tragischen Schicksals. Wir registrieren diese Episode als ein Beispiel, den Menschen über seine Füße zu definieren. Auf der Suche nach weiteren Beispielen begeben wir uns zunächst zurück. Zurück in der Zeit entlang unserer biologischen Linie um vielleicht - vier Millionen Jahre? Wir folgen den Stadien Homo Sapiens Sapiens - gewöhnlicher Homo Sapiens - Homo Faber - Homo Erectus - und davor? Vor dem Morgengrauen der menschlichen Existenz ein gemeinsamer Vorfahre von Mensch und heutigen Primaten, von dem wir eins sicher wissen: Er ging auf vier Füßen. Dieses affenähnliche Wesen verfügte nicht über die Errungenschaften, die wir als typisch menschlich ansehen: Sprache, Kultur, Technik, und hatte doch schon über 90 % des Genoms, das wir auch heute noch beflissen vervielfältigen.

Für die wahre Menschwerdung war eine wesentliche Voraussetzung noch zu erfüllen: Der aufrechte Gang. "Zeige dich auf menschlich beiden Füßen", macht Thales dem Proteus zur Bedingung, wenn dieser den Homunkulus erblicken wollte (Faust II, 8240). Welche Hypothesen sind mit dem Homo Erectus verbunden? Zwei hauptsächliche, die sich auf die Ausbildung von körperlichen und geistigen Fähigkeiten beziehen. Für effektiven Werkzeuggebrauch war eine Differenzierung der vier ursprünglichen Gliedmaßen erforderlich. Füße und Beine, die für Stand, Balance und Fortbewegung zuständig sind; Hände und Arme, die, entlastet von den genannten Aufgaben, ihre Fähigkeiten des Haltens, Hebens, Werfens, Schlagens und der filigranen Motorik entwickeln können. Von da an also die Möglichkeit zur Werkzeugherstellung und Werkzeuggebrauch zumindest auf Seite des Körpers. Doch woher die zündende Idee, das "Heureka"? Hier werden die Hypothesen etwas kühner, aber noch plausibel. Zwar sind schon Schimpansen in der Lage, Kisten zu stapeln oder Gefäße umzudrehen, wenn es sie dem ersehnten Dessert näherbringt, doch für die Pyramiden von Gizeh, das wohltemperierte Klavier und die Relativitätstheorie waren noch etliche Synapsenverbindungen mehr notwendig. So viele mehr, daß es nicht ohne hirnanatomische Veränderungen vor sich gehen konnte. Der nötige Platz wurde durch die Veränderungen des Körperbaus im Zuge des aufrechten Gangs bereitgestellt. Wirbelsäule, Schultern, Atlas und schließlich der Schädel bekamen neue Formen. Das Gehirn wurde mit einer neuen Schicht von Rindenneuronen überzogen, die in der Lage waren, die differenzierteren sensorischen Inputs aus den Gliedmassen abzubilden, zu verschalten, und schließlich komplexere Bewegungspläne zu erstellen. Auf diese Weise ging die Entwicklung der körperlichen Fähigkeiten Hand in Hand mit der Bereitstellung höherer hirnanatomischer Kapazität und elaborierterer kognitiver Funktionen. Um ein weiteres Idiom zu bemühen: Mit dem aufrechten Gang hatte das Projekt Mensch Hand und Fuß.

Auch neuere neuropsychologische Forschung beschäftigt sich mit der Verwobenheit geistiger und körperlicher Vorgänge. So postuliert A. Damasio (Descartes` Irrtum) die mentalen Repräsentationen des Körpers und deren ständige Aktualisierung als Grundlage des Bewusstseins. Der Körper befindet sich in permanenter Auseinandersetzung mit der Umwelt. Von seinen Aktivitäten werden innere Vorstellungsbilder angelegt, um Erfahrungen und Erfolge zu sichern und die Planung zukünftigen Verhaltens zu ermöglichen. Diese selbst unbewussten Skizzen unserer physiologischen Zustände und Möglichkeiten sind die Grundlage höherer geistiger Funktionen, sprich des Bewusstseins. So könnte es ohne Körper kein Gehirn geben, die Natur hätte keinen Grund gehabt eines zu entwickeln, denn seine primäre Aufgabe ist es, über das körperliche Befinden informiert zu sein. Denken bedeutet daraufhin, die neuronalen Repräsentationen in einem Prozess zu ordnen. Aus der sinnhaften Verknüpfung von Ereignissen ergibt sich die Möglichkeit, Vorhersagen zu treffen. Zudem wird jeder Vorstellung emotionaler Gehalt zugeordnet, je nachdem, ob der damit verbundene Körperzustand ein angenehmer, gesunder, oder ein unvorteilhafter ist. Damasio gibt vielerlei Erklärungen für die Entstehung von Eigenschaften unseres Bewusstseins aus zunächst einfachen neuronalen Verschaltungen, und zeigt so, dass Körper und Geist nicht als getrennte Entitäten zu konzipieren sind.

Zwar dienen als empirische Grundlage dieser Überlegungen vielfach Ergebnisse aus der Erforschung der visuellen Wahrnehmung, doch wenn wir diese Gedanken Ernst nehmen, können wir innerhalb der mentalen Körperrepräsentationen auch unseren Füßen einen bedeutenden Platz geben. Voraussetzung für effektives Verhalten ist zunächst das eigene Gleichgewicht. Das zuständige Organ braucht Daten über Lage und Richtung des Körpers. Laufen, Springen oder fester Halt, die Füße können diese Informationen liefern. So wird aus dem äußeren Stand der innere. Die Arbeit unserer Füße lässt uns erfolgreich mit der Umwelt interagieren, unsere Bedürfnisse befriedigen. Dieser Erfolg gibt Sicherheit, ein gutes Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, ein schlechtes, diesen Boden zu verlieren.

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  • Damasio, A.,R., Descartes`Irrtum, 1994, München, List Verlag.
  • Molcho, S., Körpersprache, 1994, München, Mosaik Verlag.
  • Steele, V., Fetish, 1996, New York, Oxford University Press.

    Goethe wurde anhand der Weimarer Ausgabe zitiert, und Freud aus den Gesammelten Werken.

    Weitere einzelne Zitate stammen mitunter aus dem Neuen Büchmann und der Konkordanz.

  • Vielen Dank an das Adidas Online-Team für die Übersendung der Informationen zur Firmengeschichte.

    Anschrift des Verfassers:
    Norman Thelen
    cand. psych.
    Neufahrnerstr. 2
    81679 München

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