BLÄTTER FÜR KLASSISCHE HOMÖOPATHIE

Die "vegetative Dystonie" - eine Crux medicorum

von Dr. med. Roland Eisenmann

Neben jenen "handfesten" Erkrankungen, wie etwa eine Pneumonie, die nach Unterkühlung oder Durchnässung auftritt, eine Cystopyelitis oder eine eitrige Bronchitis, eine sommerliche Diarrhoe oder ein winterlicher grippaler Infekt, begegnet uns in der täglichen Sprechstunde immer häufiger eine Gruppe von Krankheiten, bei denen sich klinisch - wie man so schön sagt - kein krankhaftes "Substrat" finden lässt.

Vielfach handelt es sich um Patienten oder Patientinnen, die schon eine ganze Reihe von Ärzten und Fachärzten konsultiert hatten. Immer und immer wieder wurden Elektrokardiogramme, Röntgenuntersuchungen, Blutuntersuchungen etc. durchgeführt - meist mit völlig negativem Ergebnis.

Schließlich werden diese Patienten von ihren behandelnden Ärzten in nervenärztliche Behandlung "abgeschoben", wo ihr "Leiden" letztlich von einem der vielen, den Markt überschwemmenden "Psychopharmaka" übertüncht wird.

Schlaflosigkeit, Angstzustände, Herzklopfen oder Herzstiche, migräneartige Kopfschmerzen, wetterabhängige Beschwerden, Muskelverspannungen, Störungen der Darmmotilität, unklare Schwindelzustände, Müdigkeit, Arbeitsunlust, Reizbarkeit und ähnliche Symp-tome werden uns vorgebracht.

Auch wir als homöopathische Ärzte tun uns oft nicht leicht, in diesem Irrgarten moderner "Zivilisationserscheinungen" den richtigen Weg und das angemessene Heilmittel zu finden.

Freilich finden sich auch hierbei lokalisierbare Symptome - die ja gerade den Weg zu dem entsprechenden "Facharzt" wiesen - wie Steingefühl im Magen, Globusgefühl im Hals, Analspasmus mit schmerzhafter Fissurbildung, Dysmenorrhoe und Fluor, Trockenheit von Mund- oder Nasenschleimhaut, chronischer Räusperzwang etc.

In den folgenden Ausführungen wollen wir einen Fall analysieren, den ZINKEunter der fast ironisch anmutenden Überschrift "Ein alltäglicher Fall" veröffentlicht hat (ZfkH 1962/2: 77). Ich empfehle die Originalarbeit als Ganzes zu lesen; hier folgt nur die auszugsweise - aber wörtliche - Wiedergabe der eigentlichen Fallschilderung.

Fall:

"Es handelt sich um eine 40-jährige Dame, dunkelhaarig, schlank, von straffer Faser, drahtig, aber nicht viril wirkend.

Als Kind litt sie häufig unter fieberhaften Anginen und war auch lange Zeit wegen Nasen- und Kieferhöhlenbeschwerden in spezialärztlicher Behandlung. Die Mandeln wurden damals gekappt. Heute noch häufig fieberhafte Pharyngitiden und im Winter viel hartnäckiger Schnupfen, trocken mit verstopfter Nase, ohne weitere Charakteristika.

Menarche mit 14 Jahren. Regel eigentlich immer um eine Woche zu spät und zu lange. Blutung nicht zu stark und nicht zu schwach. Vor der "Währungsreform" eine Zeitlang milchiger reichlicher Fluor, der mit der Verbesserung der Ernährung wieder verschwand. In jungen Jahren eine Fehlgeburt. Seitdem chron. Adnexitis, die sich auf wenige Kurzwellenbestrahlungen wieder zu "beruhigen" pflegt.

Verheiratet. 1 Kind (10 Jahre alt). Leichte Geburt.

Vor etwa 3 Jahren Salpingitis, die auf den Appendix übergriff; Appendektomie. (Unter Echinacin und Sabina D3 gute Ausheilung der Salpingitis, seitdem jedenfalls keine Beschwerden mehr). Als sie noch ein junges Mädchen war, wurde erstmals eine Hypotonie festgestellt. Sie litt damals unter Schwindel. Der Blutdruck habe damals unter 100 gelegen (RR bei der heutigen Messung 95/65). Sie sei damals lange Zeit allopathisch behandelt worden, jedoch ohne Erfolg.

Die Patientin, freundlich, beliebt, intelligent, außerordentlich praktisch und umsichtig veranlagt, im wahren Sinne des Wortes fest mit beiden Beinen im Leben stehend, leidet periodisch unter auftretender Mutlosigkeit, verbunden mit Schwindel und Herzangst. Dieser Zustand tritt in unregelmäßigen Abständen auf und hält - mit und ohne Behandlung - 10 bis 14 Tage an.

In dieser Zeit ist mit der sonst durchaus couragierten Patientin nichts anzufangen. Alles ist ihr zuviel. Sie ist überängstlich, reizbar, unbeherrscht, missmutig, mürrisch, traut sich nichts zu und muss viel weinen, besonders, wenn ihr jemand zuredet oder sie gar ermahnt. Sie wisse selbst, dass ihr Verhalten albern sei und empfinde dies auch später so, wenn alles wieder vorbei sei, aber wenn sie ihren Zustand habe, könne sie nicht anders.

Morgens sei alles am schlimmsten, gegen Abend besser. (Der Blutdruck sei während solcher negativer Perioden wiederholt kontrolliert worden; er sei dann nicht anders als sonst, deshalb glaube sie, dass die Zustände nicht vom niedrigen Blutdruck hervorgerufen würden).

Auch litte sie ebenfalls in unbestimmten Abständen an Kopfweh. Es beginne plötzlich und ohne Vorboten morgens beim Erwachen und daure - mit und ohne Behandlung - rund 3 Tage. Der ganze Kopf sei betroffen. Die Art der Schmerzen könne sie nicht angeben. Es tut so weh, dass sie dann nicht mehr denken und beobachten könne. (Wenn sie sich für eine Schmerzart entscheiden solle, würde sie sagen: drückend, wogend, von innen nach außen, wie eine schwere Last auf dem Scheitel zuweilen auch ein Bohren im Hinterkopf).

Auffällig sei, dass sie während der Kopfschmerzen oft Wasserlassen müsse, es kämen aber "nur wenige Tröpfchen". Durch das Wasserlassen würde der Kopfschmerz weder besser noch schlechter.

Das Gesicht wechsle während der Kopfschmerzen die Farbe. Es sei mal blass, mal rot. Verschlimmerung der Kopfschmerzen durch Erschütterung, intensives Licht, Lärm, Unruhe im Haus, Bewegung, heiß und kalt (= Temperaturextreme).

Bei absoluter Ruhe sei es noch am besten.

In der "Schwindelzeit" habe sie unbestimmte Angstzustände in der Herzgegend, auch mit Herzklopfen. Wenn sie ganz still liege und die Augen schließe, sei der Schwindel besser. Jede Bewegung verschlimmere. (Es bestehe eine - allerdings nur angedeutete - Tendenz nach links zu fallen. Es sei als ob alles schwimme und woge. Manchmal scheinen sich auch die Gegenstände um sie zu drehen. In der frischen Luft sei der Schwindel oft besser, aber nicht immer. Wärme vertrage sie nicht gut, stärkere Kälte aber auch nicht).

In dieser Zeit strenge sie auch das Sprechen an. Sie könne dann nur flüstern. Am wohlsten sei ihr, wenn man sie nicht anspreche. Jede Antwort sei eine Anstrengung. Keine Heiserkeit, kein Versprechen.

(Zeitweilig rheumatische Beschwerden im Rücken, besonders bei feuchtkalter Witterung und nach Überanstrengung. Der 3./4. Brust- und der 5. Lendenwirbel sind druck- und klopfempfindlich. In der dazugehörigen Muskulatur deutlich fühlbare, schmerzhafte Myogelosen). Berührungsempfindlich am Hals. Liebt keine eng geschlossenen Kleider. (Eine spätere Konsultation ergab, dass diese Berührungsempfindlichkeit den ganzen Körper betraf. Sie trägt keinen Büstenhalter, weil er ihr unangenehm ist und bevorzugt einen ganz schmalen Hüftgürtel. Die Berührungsempfindlichkeit besteht immer, Tag und Nacht. Nachts trägt sie keinen Schlafanzug, sondern ein Nachthemd. Ein Schlafanzug ist ihr unangenehm und beengend). Objektiv geringe Schilddrüsenvergrößerung, sogenannter "voller Hals".

Säckchen über den Augenlidern, lateral (nicht sehr ausgeprägt). Schlechter vor und während der Regel.

Neigung zu Verstopfung, besonders wenn sie unterwegs ist. Kein vergeblicher Stuhldrang (wenn sie morgens eine Zigarette rauche, klappe es meist). Wenn sie dann Stuhl gehabt habe, fühle sie sich allgemein wohler und leistungsfähiger.

Morgens sei sie häufiger missgelaunt und leicht gereizt. Nach dem Stuhl sei auch dies besser.

Die Magengegend ist aufgetrieben. Plätschergeräusche. Keine Modalitäten.

Abneigung gegen Milch. In der schlechten Zeit jedoch, wo Milch etwas Seltenes war, habe sie diese aber ohne Beschwerden trinken können. Fett vermeide sie auch. Kein Durst. Kein Verlangen nach Salz, Süßem, Sauer etc. Keine Nahrungsunverträglichkeiten).

Extreme Hitze (besonders Schwüle und feuchte Hitze) und Kälte (besonders nasse Kälte) vertrage sie nicht.

Örtliche Wärme bessere bei Bauch- und Kopfschmerzen. Der Schnupfen sei im allgemeinen in der frischen Luft besser."

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Dr. med. Roland Eisenmann



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