FACHFORUM

Goethe und die Naturheilkunde

Teil II "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide!" Eine Patho-Biographische Skizze J.W. v. Goethes.

von Bernd Hertling


1) Gesundheit in Goethes Verständnis

Bevor wir uns nun in die `Leidensgeschichte' des Dichters vertiefen, soll auch ein Wort zum Thema "Gesundheit" gesprochen werden. Goethe, der wie kaum ein anderer, aus eigenem Leiden Ideen, das Sein und den Sinn desselben betreffend kreieren konnte, hatte auch in Hinsicht auf die Gesundheit eine von der heutigen wohl abweichende Vorstellung.

Man kann sagen, daß er wohl in einem Vorgriff auf die Sichtweise Nietzsches - man denke an das Schlagwort: `Du sollst der werden, der du bist!' - eine `höhere Gesundheit' postulierte, die nicht unbedingt frei von Leiden sein mußte. Wir haben ja schon in Teil I unserer Arbeit seine Theorie vom physiologischen, notwendigen Leid erörtert, das den Menschen, sofern er sich darauf einläßt, es durchzumachen, verwandelt, aus der Larve mit Hilfe der Metamorphose die Imago hervorbringt. Für ihn bestand Gesundheit in einer willentlichen Leistung, die auf die Überwindung der konstitutionellen, ererbten und erworbenen, Beschränkungen, zugunsten des ureigensten Wesenskerns, der sich herausschält, abzielt. Indem er sich Gedanken zu seiner Ahnenreihe machte, kam er zu dem Ergebnis, es könne zu dyskratischen, ins melancholische überschießenden Trübungen des Charakters kommen, was sich ja auch immer wieder in praxi bestätigte. Vor allem der Vater stand ihm hierzu Modell, beschreibt er ihn doch immer wieder als zur Hypochondrie neigenden Pedanten 1), während die Mutter, als extravertierte Sanguinikerin, hier weniger in Frage kam.

Für ihn war Gesundheit eine Errungenschaft im wahrsten Wortsinne: Sie mußte den Genen, den ererbten Beschränkungen abgerungen werden, und äußerte sich in den Tugenden 2) Eigenverantwortung, kreativ-tätige Weltgestaltung und Vernunftstätigkeit. "Die Krankheit als solche arbeitet nicht auf die Zerstörung schlechthin hin, die einen zufällig trifft," weiß er, sie will, nicht zuletzt durch Geistesanstrengung, überwunden werden. So trägt denn auch das Krank-Sein immer seinen teleologischen, finalen Aspekt in sich.

So bedingungslos er seine Talente als Geschenke begrüßte, so unbedingt auch hielt er die `Lebenskunst', das dem Selbst gemäße Leben eigenständig in die Hand zu nehmen und zu führen, für das Resultat bemühter Willensenergie. Es war also eine Innere Kraft, die allen Anfechtungen und Bedrohungen zu Trotz seine zwiespältige Natur zähmte und überwand und so konnte er auch, abermals wie Nietzsche später, in der Krankheit die Gesundheit sehen und sich, trotz Leidens als ganzen, eukratischen, Menschen betrachten. Verglichen mit seinem weiter unten noch zu besprechenden berühmten Atemgedicht 3), kann man hier sagen, daß die Situation der Krankheit der Systole entspricht, wo sich der Wesenskern des Menschen in schmerzhaftem Rückzug auf ein Minimum zusammenballt, um das schlichte Überleben zu ermöglichen, während dann in der Diastole der Genesung die Chance zur Steigerung auf eine neue höhere, mehr vom Geist durchdrungene, Gesundheit liegt.

2) Die große Lebenskrise 1769.

Fast unverständlich mag es dem Leser erscheinen, wenn der knapp fünfzigjährige Goethe über den ersten Teil seiner Erinnerungen das Motto

"O mN daVeiV andVropos ou paidenetai"

zu deutsch: "Der Mensch, der nicht geschunden wird, der wird nicht recht erzogen!" setzt.

Über seine melancholischen Anwandlungen als 16jähriger Studiosus in Leipzig haben wir schon berichtet, doch die Lebensführung der damaligen Studenten war, aller Vergangenheitsidealisierung zu Trotz, in keinster Weise besser oder gar gesünder, als jene von gegenwärtig in auswärtigen Heilpraktikerschulen um ihre Ausbildung beflissenen Schülern. Nur würde sich heute die Schulleitung sicher vehement wehren, käme es zu "systematischem Fenstereinwerfen" bei Professoren, die den Unmut der Studierenden erregten, oder gar zu Handgreiflichkeiten nach den Vorlesungen. Soviel zu den guten Sitten der Goethe-Zeit. Selbst der schon gesundheitlich arg angeschlagene Goethe ließ es sich nicht nehmen, einem derartigen Skandalon, auf zwei Kommilitonen gestützt, beizuwohnen. Allerdings muß er sich dabei den Rest gegeben haben, denn wenige Tage später verließ er, schwerkrank, Leipzig. Was war geschehen? 1769 ereilte ihn ein lebensbedrohlicher Blutsturz, dessen Ätiologie weitgehend ungeklärt bleibt. Auch wenn er sich in Briefen über amouröse Abenteuer in der "Stadt der Lüderlichkeit" ausläßt, erscheint eine syphilitische Erkrankung, wie sie gelegentlich diskutiert wird, wenig wahrscheinlich - ist aber wohl auch nicht völlig auszuschließen. Nager 4) vertritt die These, es könne sich auch um ein blutendes Magenulcus gehandelt haben, die vorhergehenden Schmerzen, die Goethe als "in der Brust" bezeichnet, könnten auch epigastrischer Art gewesen sein. Die gängige Auffassung schlägt ein tuberkulöses Geschehen vor, das im Blutsturz seinen dramatischen Höhepunkt erreichte und später, nach der Heimkehr nach Frankfurt dort als (tuberkulöses) Geschwür am Hals eine zwar weniger drastische, doch nicht minder gefährliche Fortsetzung erfuhr. Mit Sicherheit läßt sich hier nichts entscheiden. Was die Auslösung der Krankheit angeht, führt der Patient selbst einige Gründe an, die durchaus plausibel sein mögen. Schließlich weiß er, daß Krankheiten ihren Ursprung in äußeren Gegebenheiten haben. (siehe hierzu auch Teil I der Arbeit). Zunächst habe er sich beim Sturz von einem Pferd und als er versuchte, einen steckengebliebenen Reisewagen wieder flott zu machen Verletzungen zugezogen, die er nicht weiter beachtete. Sodann habe er seine Gesundheit durch den für Studenten typischen, ausschweifenden Lebensstil arg geschwächt. Dazu gehörte die Unmäßigkeit in beiderlei Richtung, Überaktivität und Müßiggang. Naturwidriges Verhalten führt, diese Ansicht vertritt er entschieden, zu Autodestruktion und die Natur straft diese Vergehen unnachgiebig. Er habe in großen Mengen dem Merseburger Bier und dem Leipziger Kaffee zugesprochen, was seine Verdauung paralysiert und seinen Verstand umnebelt habe.

Zudem habe er sich zu dieser Zeit auch des Kaltbadens und unbedeckten Schlafens auf zu harter Unterlage befleißigt - als, wie er selbst zugibt, falschverstandene Aufforderung zur Abhärtung und Rousseauscher Naturverbundenheit. Obendrein atmete er beim Kupferstechen entstehende giftige Dämpfe ein, die die Schleimhäute des Respirationstraktes verätzten und das Eindringen von Erregern begünstigt haben mußten. Summa summarum genug, was soweit kränkte, daß man davon krank werden konnte. Doch um die Geschichte abzurunden, und für den jungen Studiosus wohl am kränkenden kam ein heftiger Liebeskummer hinzu, dem sich der junge Goethe in aller Exaltiertheit, der er fähig war, in die Arme warf. Aus einem durchaus ernstgemeinten Flirt mit der `filia hospitalis', Käthchen Schönkopf wollte sich keine dauerhafte Bindung ergeben und er stürzte sich in selbstquälerische Phantasien. "Aber ich liebe sie! Ich glaube, ich tränke Gift von ihrer Hand. Besser ich lasse hier meine Wut aus, als daß ich mit dem Kopf wider die Wand renne!" bekennt er in einem Brief. 5) Außerdem mußte er auch den Freund, an den diese Zeilen gerichtet waren, verlieren. Ernst Wolfgang Behrisch, der ihm in Leipzig allezeit mit Rat und Tat zur Seite stand, fiel am Lindenauischen Hofe in Ungnade und sah sich gezwungen, die Stadt zu verlassen.

Tod ist Trennung
Dreifacher Tod
Trennung ohne Hoffnung
Wiederzusehen.

aus den Oden an Behrisch

Doch nicht genug damit: Die Nachricht, der von Goethe sehnlichst in Leipzig erwartete Kunsthistoriker und Aesthet Joachim Johann Winckelmann sei in Triest einem Mord zum Opfer gefallen, stürzte ihn vollends in Verzweiflung, war doch Winckelmann der Inbegriff des Kenners klassischer Kunst und der junge Goethe hatte sich von einem Treffen in Hinsicht auf seine Malerkarriere viel versprochen.

Diese drei psychischen Traumata kann man wohl als letzte Auslöser der Krankheit ansehen. Die Freunde päppelten den Kranken noch ein paar Wochen auf, dann endlich transportfähig, verließ er die Stadt seiner Studien und Katastrophe, um sich im heimatlichen Frankfurt der Genesung zu widmen. Voller Scham, den verständlichen Ansprüchen seines Vaters auf Examen und Promotion nicht genügt zu haben, kommt er an und wird von der Mutter und Cornelia gepflegt. Der Vater braucht eine gewisse Zeit, sich damit abzufinden, daß er "anstatt eines rüstigen, tätigen Sohns, der nun promovieren und jene vorgeschriebene Lebensbahn durchlaufen sollte, einen Kränkling zu finden, der noch mehr an der Seele als am Leibe zu leiden schien." 6) Der junge Kranke erkennt jedoch die Zusammenhänge, zwischen dem psychischen und dem körperlichen Leiden und sieht, daß der Körper, "um das Ganze zu retten" 7), ernstlich erkranken hatte müssen. Doch Zuhause kommt es zu einer weiteren Verschlimmerung. Ein Geschwür bildet sich am Hals, das der Chirurg entfernen muß.

3) Die Begegnung mit der Alchemie

Doch eine gründliche Genesung läßt auf sich warten, ja der Gesundheitszustand verschlechtert sich abermals dramatisch, so daß die Pflegenden keinen Rat mehr wissen. Eine Freundin der Mutter, Susanna Katharina von Klettenberg rät den "Wunderarzt" Johann Friedrich Metz aus ihrer pietistischen Vereinigung der Herrenhuter zu konsultieren. Eine pikante Situation: Die akademisch denkende Familie konsultiert einen Arzt, dessen Verfahren man heute wohl als `esoterisch begründete Außenseitermedizin' titulieren würde. Die Frage nach einer etwaigen Kassenerstattung stellte sich damals mangels derartiger Einrichtungen ohnehin nicht... Trotz des unbezweifelten Erfolges klingt eine gewisse Skepsis durch die entsprechenden Abschnitte in Dichtung und Wahrheit, und auch der durch das Wundermittel des Medicus, es mag sich um eine spagyrische Zubereitung gehandelt haben, Geheilte distanziert sich später in seinen Memoiren von seinem damaligen Wunderglauben 8): "Mehr als durch alles erweiterte er (der Arzt Verf. ) seine Kundschaft durch die Gabe, einige geheimnisvolle selbstzubereitete Arzneien im Hintergrunde zu zeigen, von denen niemand sprechen durfte, weil bei uns den Ärzten die eigene Dispensation streng verboten war... Um den Glauben an die Möglichkeit eines solchen Universalmittels zu erregen und zu stärken, hatte der Arzt seinen Patienten, wo er nur wenig Empfänglichkeit fand, gewisse mystische chemisch-alchimische Bücher empfohlen." Dabei ging es um die Herstellung alchemistischer Essenzen, letztlich sogar um das opus magnum. Als sich sein Zustand nochmals verschlimmert, "zwang meine bedrängte Mutter den verlegenen Arzt, mit seiner Universalmedizin hervorzurücken... er kam mit einem Gläschen kristallisierten trockenen Salzes, welches in Wasser aufgelöst von dem Patienten verschluckt wurde und einen entschieden alkalischen Geschmack hatte. Das Salz war kaum genommen, als sich Erleichterung zeigte und die Krankheit nahm eine Wendung, die stufenweise zur Besserung führte." 9) Wichtig erscheint Goethe dabei, daß der ganze Mensch an seiner eigenen Heilung mitwirken muß. Nicht das Medikament allein, auch nicht allein der Glaube, aber die Kombination aus innerem Vertrauen auf die von außen und innen bereitgestellten Heilungskräfte bewerkstelligen letztlich die Heilung und die Wendung zum Guten.

Er postuliert, daß es zu keiner Heilung kommen könne, sobald nicht der ureigenste Wille des Kranken zur Veränderung bereit sei und es der Arzt an therapeutischem Eros fehlen lasse. Diese persönliche ureigenste Erfahrung des Heil-Werdens hinterließ begreiflicherweise einen starken Eindruck im Gemüt des jungen Mannes. Er stürzte sich ins theoretische Studium der okkulten Schriften, welche nicht unwesentlich an seiner ganz persönlichen Geisteshaltung mitgestalteten: Seine Einstellung der Natur gegenüber, die allein als Lehrerin geeignet ist; seine Auffassung vom dienenden Charakter der Wissenschaft, der verehrenden Anschauung der Natur und seine heute wieder hochaktuelle ökologische Weltschau sind faßbare Resultate dieser Begegnung, welche sein pansophisches pantheistisches Denken ein Leben lang prägte. Ausgehend von der Zahlenmystik der Kabbala postulierte er lange vor Mendelejew ein algebraisches System, das hinter der nur oberflächlich wirren Vielfalt der chemischen Elemente stehen müßte. Gerade diese Hinwendung zu den geistigen Kräften, die in der Natur verborgen wirken, macht Goethe zu einem Mitbegründer des heutigen naturheilkundlichen Denkens. Diese Beschäftigung schlug sich auch in seinem dichterischen Schaffen nieder, und so ist denn seine Faust-Dichtung, zumal deren Teil II ohne dieses okkulte Wissen nur schwer vorstellbar. Die Natur, die er in allem als Meisterin ansieht, dringt dem endlich Genesenden nun Ruhe auf und er gibt sich ihr äußerlich hin, ohne dabei innerlich zu verarmen. Die ihm auf diese Weise aufgenötigte Schonung wendet seine innere Haltung. Er wird, zwangsläufig zuerst, dann mit mehr und mehr Überzeugung nachdenklicher und überlegter in seiner Tätigkeit.

4) Gesundheitspflege in jungen und mittleren Jahren

Nun, da er am eigenen Leib leidvoll erfahren hatte müssen, daß Gesundheit nicht eine selbstverständliche, gegebene Komponente des Lebens sein muß, tat er in gesunden Zeiten alles, um sie zu erhalten. Als er nach vollendeter Genesung sein Studium in Straßburg fortsetzte und schließlich dort auch zu Ende brachte, beschloß er, wohl in Anbetracht drohender weiterer Krisen, sich abzuhärten. Dabei hatte er sowohl äußerliche als innere "Gegner" in Schach zu halten. So postierte sich der Geräuschempfindliche in unmittelbarer Nähe der Trommler der auf- und abziehenden Stadtwache, erklomm die (ungesicherte) Plattform des unvollständigen Münsterturmes, um im Hinabblicken Höhenangst und Schwindel zu bändigen und fand wieder zurück zu den rousseauschen Abhärtungen, indem er auf der Veranda schlief, um sich gegen Erkältungen, welche ihn anscheinend immer wieder heimsuchten, zu immunisieren. Auch in Goethe würde man einen entschiedenen Verfechter der "Ansteckung-nur-durch-Angst-Theorie" finden. Er beschreibt in Eine Campagne in Frankreich eine Situation, da er inmitten von an einer Faulfieberepidemie erkrankter Soldaten, einzig und allein durch die "entschiedene Aufbietung des Willens einer Ansteckung entging". So wie auch sonst Selbstbeherrschung und Entsagung wesentliche Elemente in seiner praktischen Gesundheitsphilosophie waren. Auch in Sachen psychischer Leiden sah er Ansteckung als Causae am Werk und postulierte den unbedingten Gehorsam dem eigenen inneren Lebensplan gegenüber. Hielt man sich nur konsequent an das, als einem selbst gemäß erkannte und vermied alle ungemäßen Einflüsse, führe dies zur Ganzheit und Unerschütterlichkeit der Seele. Wie wir weiter unten noch sehen werden, betrieb er auch eine, vorsichtig formuliert, zweifelhafte Psychohygiene, indem er allem Kontagiösen und Morbiden aus dem Weg ging. So war er bar jeden Verständnisses und Mitgefühls, wenn es um die Leiden anderer ging. Seit seinem Erlebnis mit der Alchemie vertraute Goethe auf den "Inneren Arzt" der ihn in seinem Pulsieren unterstützt: In der systolischen Zurückgezogenheit braucht er Natur pur, botanisiert oder treibt andere Naturstudien und besucht Trinkkurbäder, wie Marienbad, Karlsbad, Bad Pyrmont, Wiesbaden, Teplitz und andere. Gerade in diesen zurückgezogenen Phasen gedachte er auch der rekreierenden Kräfte des Schlafes und erfährt die Kraft kompensativer, erfreulicher erquicklicher Träume. In den aktiven Zeiten wendet er sich vehement gegen das "verdrießliche Sitzen" in seiner Tätigkeit als geheimer Rat und fordert das Hinaus in die freie Natur: Man kannte ihn als die Kapazität im Eislaufen, auch galt er als guter Fechter, Reiter und Schwimmer. Der Sport bescherte ihm Gipfelerlebnisse und Freude und diente zugleich auch der Abhärtung. Nachdem wir Naturheilkundigen gerne sein Atemgedicht zitieren, sei auch auf die Achtsamkeit, die er zeitlebens dieser Inkorporation des Lebenspulses entgegenbrachte verwiesen.

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
So danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank' ihm, wenn er dich wieder entläßt.


(10)

Später weicht diese Abhärtung dem Gegenteil: Er vermeidet alles, was ihm in irgendwelcher Weise schaden könnte. Einen Besuch der Madame de Stael in Jena sagt er wegen schlechten Wetters ab und die resolute Reisende sieht sich gezwungen, will sie Goethe persönlich sehen, ihn eigenpersönlich zu besuchen.

Doch, leider, so sehr man sich einen Patienten, wie den vorgestellten, wünschen mag, die "guten Zeiten" wechselten sich ab mit kränkelnden und die Schaffenskraft wich einer manchmal bis zur absoluten Tatenlosigkeit reichenden Lethargie. Immer öfter wurde der Alkohol zum Seelenwecker erkoren und Schiller beklagt die melancholisch motivierte Versteinerung Goethes, sein dann völliges Desinteresse an anderen und schreibt wörtlich: "Überhaupt mag ich Goethe nicht, wenn er nicht zuvor eine Bouteille Champagner getrunken hat." 11)

Aus alledem geht hervor, daß Goethe in psychischer Hinsicht wohl mehr als nur gelegentliche melancholische Anwandlungen auszustehen hatte. Seine lethargische Taten- und Motivationslosigkeit, die sich mit schier an Besessenheit grenzenden Arbeitseifer abwechselte, die temporäre Notwendigkeit von Stimulanzien um den Alltag oder gar anstrengende Phasen zu überwinden, weisen doch deutlich manische Züge auf. Seine Gewöhnung an Alkohol, in Form von grundsätzlich verdünnt getrunkenen Wein 12) und Champagner, ist bekannt. Vor allem in den schweren Jahren nach seiner Rückkehr aus Italien spricht er, mit tatkräftiger Unterstützung seiner derz. LAG 13) und späteren Ehefrau Christiane Vulpius, sogar mehr als die diesbezüglich eher freizügige weimarische Gesellschaft tolerierte, dem Bakchoskult zu. Ob er, wie sein Sohn August, als regelrechter Alkoholiker anzusprechen ist, möchte ich nicht entscheiden. Doch, wie konnte es soweit kommen?

5) Weitere Krisensituationen

a) Charlotte Kestner und die Dichtung des `Werther'

Nach Beendigung der Straßburger Studien und dem Erwerb eines Lizentiatenpatents, nachdem man die allzu provokanten Thesen seiner juristischen Dissertation abgelehnt hatte, ging er, als Praktikant, ans Reichskammergericht zu Wetzlar. Dort widerfuhr ihm jene schicksalhafte Begegnung mit Charlotte Buff, jener Traumfrau, welcher er in seinem, wohl neben dem Faust, berühmtesten Werk, "Die Leiden des jungen Werthers" ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Seine aussichtslose Liebe, die Dame seines Herzens war schließlich verlobt, bescherte ihm eine schwere psychische Krise. Fluchtartig verließ er Wetzlar und begab sich nach Frankfurt, wo er eine einjährige Phase intensivsten künstlerischen Schaffens, die uns z.B. den Götz v. Berlichingen bescherte, durchlebte. Doch dann, noch immer unter dem Eindruck der unerfüllten Liebe "steckte er sich an der allgemeinen Empfindsamkeitskrankheit an", was ihn an den Rand des Suizids brachte. Er erörterte für sich und später für die Nachwelt die verschiedenen Möglichkeiten des Selbstmordes und kam zu dem Schluß, daß erst dann der Leidensdruck groß genug sei, mit dem eigenen Leben endgültig abzuschließen, wenn man sich dazu in der Lage fände, sich einen Dolch ins Herz zu stoßen. Mehrmals habe er mit einem geeigneten Gegenstand herumhantiert, doch es nicht über sich gebracht, kraftvoll genug zuzustoßen. 14) Gemäß seiner Kunst, die Krise zur Kreativität zu nutzen, begab er sich in Klausur und schrieb in einigen Wochen des Februar 1774 den Werther. Abschließend konnte er von sich behaupten: "Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, wieder zu einem neuen Leben berechtigt (!). Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustatten gekommen." 15) Was ihm selbst erspart geblieben war, der Tod von eigener Hand, wurde in Folge des Romans in vielfältiger Weise Realität, da es bei liebeskranken Jünglingen, man kann durchaus sagen in Mode kam, sich angetan mit "Wertherkleidern" - blaues Wams, braune Stulpenstiefel und die unvermeidliche gelbe Weste - eine Kugel in den Kopf zu jagen.

b) Die Flucht nach Italien

Der Roman geriet zum "Bestseller" und auch äußerer Ruhm wurde dem Dichter und Schriftsteller beschieden: Der Herzog von Sachsen Weimar berief ihn im Juni 1776 als Prinzenerzieher an seinen Hof und ernannte ihn zum "Würcklichen geheimen Rat".

Hier in der Mühle des Hofbeamtentums, im, heute würde man sagen, `Stress' der ephemeren Entscheidungen der Verwaltung, sehnte sich Goethe immer mehr nach Dauerhaftem. In diese Jahre fielen seine ersten ernstzunehmenden naturkundlichen Studien, auch wird die Natur Gegenstand seiner Lyrik, wie es Gedichte wie "Ein Gleiches" verdeutlichen. Er lernte Charlotte von Stein kennen und wohl eher auf platonische Art und Weise auch lieben. Ihr Gemahl, Rittmeister des Herzogs, war mehr an Pferden als an seiner Ehe interessiert und stets außer Haus, was die nahezu täglichen Treffen der beiden verwandten Seelen begünstigte. Die berühmte Frage in Hinsicht auf seine "verehrte Freundin" läßt sich wohl nicht beantworten, also stelle ich sie erst gar nicht... Vor einer Beziehung, die eine Auflösung der von Steinschen Ehe bedeutet hätte, schreckten wohl beide zurück. Der Fluß in Goethes vita beginnt hier zu stocken, "nichts ist elender als der behagliche Mensch, ohne Arbeit, das schönste der Gaben wird ihm eckel," 16) notierte er in eigenwilliger Grammatik. War es das Einerlei in seinem Amt, war es die stagnierende Beziehungssituation, war es eine erneute innere Krise? Wohl verknüpften sich mehrere Faktoren, die jeder für sich genommen, nicht hinreichen für sein an den Tag gelegtes Verhalten gewesen wären, zu einem unentwirrbaren Mißbehagen, er selbst nannte es "Wirr-warr der Gefühle". Heute würde man sagen, die Midlife-crisis hatte den Geheimrat am Wickel, und er verließ, wieder einmal fluchtartig, die Stätte seines Wirkens und begab sich, ohne auch nur eine einzige Zeile an Frau v. Stein zu hinterlassen auf die Italienische Reise. Dieses Verhalten gab Anlass zu einem dauerhaften Zerwürfnis, schließlich hatte er sonst sogar an jenen häufigen Tagen, an welchen sich die beiden trafen, der Dame seines Herzens durch einen Diener Briefchen zukommen lassen. Im Gepäck hatte er die Schriften Winckelmanns und den unbedingten Wunsch nach grundlegender Revision seines Lebens. Seine Theorie von der Metamorphose sollte hier, in Italien, entstehen und sogleich Wirklichkeit werden, sich am Leben erproben. Denn er sah sich keiner geringeren Herausforderung gegenübergestellt, als dem inneren Drang nach Umformung seinerselbst. So wurde denn die Reise, die Flucht ins Schöne, zum Prozess einer von Innen herauskommenden Wiedergeburt nach der Krise des Stillstandes. Und als Fazit konnte er nach eineinhalb Jahren Aufenthalts in Italien schreiben: "In Rom habe ich mich selbst ... gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir, glücklich und vernünftig (Hervorhebung durch den Verf.) geworden."

c) Die Große Krise nach der Rückkehr und Verbindung mit Christiane Vulpius

Man kann sich unschwer ausmalen, in welch aufgeräumter Stimmung der grundlegend veränderte Mann - die in seinen Augen zum Schmetterling mutierte Larve - bei seiner Rückkehr nach Weimar geschwebt haben mag. Als ein Mensch mit durchaus neurotischen Zügen, die er nun endlich aus eigener Kraft überwunden, in sein eigentliches Wesen integriert glaubte, empfand er verständlicherweise völlig anders als zuvor. Die konfliktbehaftete Kluft zwischen dem, der sich selbst findet und jenen, die ihm dabei nicht nachfolgen können, tat sich schmerzlich auf. Wie so oft, wenn ein Individuum einen Entwicklungsschritt tut, den das Kollektiv vermeidet, stieß der aus dem Wunderland des Südens zurückgekehrte in Weimar auf Unverständnis, ja auf harsche Ablehnung. Sollte man die Haltung der Weimarer nicht verstehen können, denke man zum Vergleich an die typischen, buntgewandeten Indienreisenden der 60er Jahre und deren Aufnahme durch die Gesellschaft nach ihrer Heimkehr... Vor allem Frau v. Stein hatte ihm seine kommentarlose Flucht nicht verzeihen können, daran hatten auch die zahlreichen Briefe, die er der Beleidigten aus Italien schickte, und wohl zuallerletzt das bewußte Paket mit dem Priapen 17), nichts geändert. "Goethe ist sinnlich geworden," bemerkte sie in einem aufgezeichneten Gespräch. Die Beziehung war kaputt, der Kontakt wurde nicht wieder aufgenommen. Auch wenn ihn Herzog Carl August von vielen lästigen Pflichten entband, stürzte der Genius in eine tiefe Depression. Unverständnis und Entfremdung machten ihm seine selbstgewählte, aber zum Überleben wohl dringlichst notwendige Entwurzelung deutlich. Gemäß seiner Erkenntnis, daß äußere Anerkennung nur die Frucht innerer Reife sein kann und unter Umständen längere Zeit auf sich warten lassen muß, ließ er sich, in künstlerischer Hinsicht, nicht von seiner Umwelt beirren.

Anders als viele heutige, die den nächsten Jet besteigen um dauerhaft im Land ihrer Sehnsüchte ihr Heil zu suchen, zog sich Goethe in die "Innere Emigration" zurück. In einer, von Ausmaß und Vehemenz noch nicht gekannten, systolischen Konzentration arbeitete er nun an der Vollendung der in Rom begonnenen Werke, Egmont, Torquato Tasso und einzelner Szenen des Faust. Aus dem Stürmer und Dränger war ein geläuterter Klassiker geworden. Auch wenn die "Disproportion des Talents mit dem Leben" ein zutiefst unklassischer Stoff sein mag, spiegelt sich doch das Dichterschicksal des verkannten Renaissance-Genies, Torquato Tasso in seiner eigenen Biographie wider. Tasso, dieser grüblerische, misanthropische, fast schon paranoide aber durchaus geniale Poet "ist Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch". 18)

"Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide!"

Diese Zeilen, die wir bewußt als Überschrift des zweiten Teils unseres Beitrags über Goethe gewählt haben, sprechen für sich und bedürfen keines weiteren Kommentares! Erneut hatte er sich sein Leid von der Seele geschrieben, doch unter dem Druck der Verhältnisse ändert sich sein Lebensstil erneut grundlegend: Der Klassiker wird zum Bohemien, wobei sein Verhältnis mit der Blumenbinderin Christiane Vulpius den Ausschlag gibt. `Hätte er sich doch ein fesches Mädel aus Italien mitgebracht, alle hätten ihm verziehen', tratschte man bei Hofe, doch dieses, noch dazu dauerhafte, Verhältnis mit der vulgären Frau von niederem Stande, kann oder will ihm die Weimarische Gesellschaft, allen voran die tief verstimmte Charlotte v. Stein, nun nicht mehr durchgehen lassen! Man schneidet ihn und er ist ein outcast, der sich obendrein in Gestalt höchst obszöner Gedichte, welche sich über alle bestehenden Werte lustigmachen und sich über jegliche Moral hinwegsetzen, revanchiert. 19) In diese Zeit fallen auch die oben schon erwähnten Alkoholexzesse. Ein Portrait aus diesen Jahren zeigt uns einen reichlich verfetteten, ungesund wirkenden Lebemann mit teigig aufgedunsenem Gesicht, passend übrigens zu seiner ebenfalls sehr rubensartig dargestellten Christiane.

Erst die Freundschaft mit Schiller, beginnend 1794 brachte einen erneuten Umschwung in Richtung auf die "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" - Ideale der Klassik.

d) Schillers Tod 1805

Doch, wie bekannt, währte diese Phase nicht lange, eigentlich nur zehn Jahre, denn die Stilkunde läßt die Klassik mit dem Tod Schillers im Jahre 1805 enden. Goethe, in den "besten Jahren" reagierte auf die Nachricht vom frühen, allzu frühen, Ende des Freundes, wie ein kleines Kind, das seine frühverstorbene Mutter mit dem Hass des Verlassenen verfolgt. Er fühlte sich halbiert, verraten, verlassen. Da er sich, wie wir noch genauer sehen werden mit Tod und Sterben nicht auseinanderzusetzen vermochte, das Wort Tod benutzte er nur in der Dichtung, niemals im täglichen Umgang (!), trieb er erneut in eine heftige Krise. Zu den seelischen Qualen, die der "halbierte Mann" durchlebte, gesellte sich noch eine heftige Nierenkolik, die ihm dazu diente, sich von Schillers Begräbnis fernhalten zu dürfen. Erneut wirft er sich mit Eifer in die Arbeit: "Seelenleiden, in die wir durch Unglück oder eigene Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Tätigkeit hingegen alles!" 20) Teil I des Faustdramas wird fertiggestellt. 21) Wir wollen in diesem Zusammenhang nur auf das Faktum verweisen, daß die "Zwei Seelen" seiner Figur dem Schöpfer mehr als nur bewußt waren, fand er doch bei seinen Introspektiven in sich den Charaktertypen des rationalen Beobachters und Wissenschaftlers, des Moralapostels und eines religiösen Menschen, der vom Glauben an eine Gesetzmäßigkeit in der Welt durchdrungen war gleichermaßen, wie den des Abergläubischen, des Lebemannes und Wüstlings, des Dichters und des leidenschaftlichen Gefühlsmenschen.

Auch in dieser Situation gelingt es ihm, sich auf die neue, prekäre Situation der Vereinzelung, nun in künstlerischer Hinsicht, einzustellen und mit reger, schaffender Gewalt der schmerzhaft erfahrenen Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen und wahrhaft Bleibendes zu schaffen.

e) Fazit

Blickt man nochmals auf die großen Krisen im Leben des Genies zurück, auf alle kleineren en detail einzugehen verbietet der gegebene Rahmen, kann man sagen, daß sie die Person Goethes nicht unverändert ließen. Selbst nach Zeiten, da er sich "selbst gefunden" hatte, wie der Italienischen Reise, die ihn sowohl in wissenschaftlicher als auch künstlerischer Hinsicht auf die Spitze seines schöpferischen Leistungsvermögens gebracht hatte, die man also als positive Evolution betrachten kann, ohne Leid und Leidensdruck erreichtes Vorankommen, stürzt er aufgrund der äußeren Umstände in eine gewaltige Krise aus der ihn wiederum nur das zähe Festhalten an seiner Tätigkeits-Maxime rettet. Das darauf folgende Schießen lassen der Zügel mag wohl auch der verstehen und begreifen, der nicht selbst spüren mußte, was es heißt, keine Wurzeln mehr zu haben, was es heißt, alle Energie, die sonst zum Leben allgemein notwendig ist, allein in schöpferische Arbeit gesteckt zu haben. Wir finden es eher beachtlich, daß Goethe nach getanem Werk nicht erneut in Lethargie versunken war. Schließlich hatte er 1787 bei der Herausgabe der Erstausgabe seiner gesammelten Werke, gerade in Weimar, nicht den gewünschten Erfolg. Die, im ersten Teil unserer Arbeit angegebenen drei Subskribenten der Stadt sprechen eine beredte Sprache, wie es um die gesellschaftliche Akzeptanz und Beliebtheit des Dichters in jenen Jahren bestellt war. Seine offene Rebellion und Auflehnung gegen die bestehenden gesellschaftlichen Zwänge und Gebräuche seiner Zeit mag vielleicht verwundern, doch auch dieser Aspekt seines Lebens ist stimmig: Seinem Selbst gemäß leben! Auch wenn die Art und Weise, wie dieses Leben dann aussieht, nicht allgemein anerkannt wird. Goethe hat darauf verzichtet, sich irgendwelchen bequemen -ismen anzuschließen; gerade das hat ihn dazu gebracht, nicht nur selbst als `trendsetter' zu wirken, sondern und vor allem, zeitlebens, in Kontinuität und Wandel derselbe zu bleiben.

6) Der alte Dichter und Denker

Von der Perhorreszenz, die der Tod für ihn besaß durchdrungen, unternahm der alternde Goethe immer wieder Reisen zu Kurzwecken. 1823 verliebt sich der vierundsiebzigjährige, der soeben eine lebensgefährliche Pericarditis, nach anderen Quellen handelte es sich um einen ersten Infarkt, überstanden hat, in Marienbad in die siebenundfünfzig Jahre jüngere Ulrike von Levetzow. Mit zunehmendem Alter litt Goethe nämlich zunehmend an Herzinsuffizienz und angina pectoris. Er behandelte sich öfter selbst, da er den Ärzten nicht in allem traute, mit dem berühmten Arnikatee, der ihm auch nach diesem, seinem ersten Infarkt gut half. Hierbei hatte er zwanzig Tage und Nächte im Lehnstuhl gesessen, trank den bewußten Tee und ließ sich Blutegel setzen, denn er wollte "meinen Tod, nicht den der Ärzte sterben" - eine konsequente Haltung, die wohl zu seiner Rettung beigetragen hatte. Auch wenn zeitgenössische medizinische Autoren, wie etwa Frank Nager, Tee und Egeln lediglich Placebo-Wirkung zugestehen. Doch Goethe wußte, "daß die größten Geheimnisse, Kräfte und Wirkungen verborgen liegen in verbis, herbis et lapidibus" 22) und hatte klar erkannt, daß der Patient, wenn er beginnt, seinen Behandlern zu mißtrauen, seine Geschicke selbst entschlossen in die Hand nehmen muß! Im sich entspinnenden Fall, der Romanze des alten Mannes, ist er jedoch wieder so frei, seinen Arzt, Dr. Vogel zu konsultieren. Dieser rät ihm prompt zur Heirat, offenbar weiß er um den verjüngenden Effekt, den taufrische Mädchen auf alte Männer ausüben, auch ohne tibetischer Tantriker sein zu müssen, doch die derart geehrte Demoiselle ergreift vor dem Werben des Greises die Flucht. Er läßt sich sogar dazu hinreißen, ihr nachzureisen, macht sich in den Augen der siebzehnjährige zum Hanswursten und erhält, wie nicht anders zu erwarten, einen Korb. Nun, da ihm derart unmittelbar der Beweis des Endes seiner Unwiderstehlichkeit erbracht wird, beginnt er mit dem Erleben des persönlichen Alterns zu hadern und zu kämpfen. Er durchlebt nun im Alter noch eine der heftigsten psychischen Krisen seines Lebens. Er fühlt sich als gebrochener Mann, dessen Zeit nun endgültig um ist. Um mit C.G. Jung zu reden, seine Animaprojektion auf die jugendlich reine Jungfer löst sich in Luft - und Tränen - auf. Endlich ist er enttäuscht und kann der Realität des Alters ins Auge sehen. Man könnte sagen, der somatischen Herzbeutelentzündung folgte auf dem Fuße die psychische Verletzung zum Tode:

Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst der Götter Liebling war;
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.

Schlußverse der Marienbader Elegie

Doch noch lagen einige schaffensreiche Jahre vor dem alten Mann. Der zu seinen Lebzeiten unter Verschluß gehaltene Faust II und Wilhelm Meisters Wanderjahre entstanden in dieser späten Periode seines Schaffens. Zwei Jahre vor seinem Tod mußte er noch erleben, daß sein Sohn, August, in Italien, wohl nicht zuletzt an den Folgen seiner Trunksucht, starb. Der alte Goethe, der den Schmerz darüber nicht an sich heranlassen wollte, mußte eine heftige somatische Reaktion erleiden: Wie in seiner Jugend, ereilte ihn ein Blutsturz unbekannter Aetiologie, der ihn an den Rand des eigenen Todes brachte. Die darauffolgende Genesung war zwangsläufig keine vollständige. Wie uns der, bei dem 81jährigen Goethe geladene William Thackeray erzählt, konnte man bei dem Greis "seit kurzem jenen blauen Ring, wie ihn Saturn haben mag, ums braune Auge herum" erkennen, den der Mediziner, auch wenn er kein Augendiagnostiker ist, als Arcus senilis identifiziert. Wenn ein 81jähriger mit diesem Phänomen aufwartet, ist das nichts Besonderes, zumal nichts außergewöhnlich Besorgniserregendes. Doch dieses Zeichen einer Sklerose spiegelte sich auch in seiner Lebensführung wieder, die nun starrer geworden war. Seine Liebe zur Ordnung pervertiert allmählich zur Pedanterie, was allerdings nur wenig verwundert, wenn man seine Sammelleidenschaft kennt und weiß, daß er sich als Mensch inmitten zahlloser unbelebter Objekte, mögen sie nun künstlerischer Natur oder Sammelstücke des Mineral- Pflanzen- oder Tierreichs sein ordnend behaupten muß. Sein ordnender Geist kämpft gegen das Dingliche aus drei Reichen und vier Elementen, und so ist das Arbeitszimmer, dessen Einrichtung spartanischen Charakters ist, frei von störendem Schnickschnack oder irgendwelchem gefälligem Beiwerk. Aber, im Gegensatz zu den penibel geordneten Sammlungen befindet es sich in Unordnung, denn, wo ein schöpferischer Geist weht, kann ein festgesetztes Ordnungsprinzip, das er als Tod ansieht, nur hinderlich sein. So findet man auch hier das Walten des Prinzips der Polarität: Hier schöpferisches Chaos im Arbeitsraum des geistig regen Menschen, dort systematisch katalogisierte Stofffülle in den Sammlungen der Bausteine seiner Gedankengebäude. Die Vermeidung von Kontagiösem und Widerwärtigem, wozu bei Goethe laute Worte, ja Lärm überhaupt, Brillen, Pfeifen, Zigarren, Schnauzbärte oder die Anwesenheit von Hunden gehören, wird immer wichtiger, ebenso die Einhaltung eines strengen Zeitplans, der die Wochentage, genauso wie die Stunden erfaßt. Denn nicht nur gegen die erdrückende Masse der Gegenstände, auch gegen den immer kleiner werdenden zeitlichen Rahmen, der ihm als lebendem Menschen im Alter verblieben ist, befindet er sich in der Defensive und kämpft verbissen um jede Minute. Daß sinnvolle Zeiteinteilung das A und O eines auf Dauer kreativen Geisteswirkens ist, lernt man auch von anderen Geistesgrößen, wie z.B. Schopenhauer. Auch der, in hippokratischem Sinne erstellte Diätplan legt Zeugnis von einer gewissen Rigidität ab. So gesund es sein mag, wenig zu frühstücken, ein spätes Mittagsmahl einzunehmen und nichts mehr zu Abend zu essen, diesen Rat Hufelands beherzigte Goethe eisern, so fraglich mag es aber im Gegenzug sein, bereits am Vormittag damit zu beginnen, Wein zu kredenzen, dessen Tagesvolumen dann bis an die drei Flaschen heranwächst!

7.) Tod, Sterben und Unsterblichkeit

Als Naturphilosoph, weniger als religiös empfindender Mensch, sah Goethe in gesunden Zeiten einer ewigen Fortexistenz mit Zuversicht entgegen. "Der Mensch soll (Hervorhebung vom Verf.) an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß... die Natur (ist) verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins auszuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag." 23) Wer also in rastloser Tätigkeit sich behauptet, kann nicht vergehen, auch wenn der Körper diese Geistesenergie nicht mehr ertragen kann. Auch wenn Goethe an keinem uns bekannten Ort sich eindeutig für die Reinkarnation ausspricht 24), klingt doch in seiner Lehre vom formschaffenden evolutionären Geist etwas derartiges an. In jedem Falle aber überlebt der Geist das Irdische und "all diejenigen sind auch für dieses Leben tot, die auf kein anderes hoffen!" sagt er. 25)

"Mich läßt der Gedanke an den Tod in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet. "

26) aus den Gesprächen mit Eckermann

Gemäß seiner Theorie, daß sich das All, das Ganze, evolutionär gebärdet, durch die Antinomien der Polarität sich Spannung aufbaut, die zu einer stufenweisen Steigerung des Bestehenden führt, erheben sich Kreisläufe spiralig nach oben. So entstehen Lebewesen und so werden Leben gelebt. Denn das Leben ist ein Streben nach oben, ins Licht und es bedient sich des Geistes, der primär zum Himmel hinansteigt und nur sekundär von ihm herabkommt. Im Geist wird sich die Natur ihrerselbst bewußt und der Geist ist der Motor der Metamorphose, die durch ihn und nur sekundär in der Materie, wie sie von den Physikern verstanden wird, stattfindet. Überdenkt man diese Ansichten des altersweisen Dichters und Denkers, entsteht assoziativ das Bild "Die Schule von Athen" aus den Vatikanischen Stanzen Raffaels vor dem inneren Auge und man sieht in dessen Zentralfigur, Leonardo/Platon Goethe, der den Weg nach oben weist. Ihm schwebte wohl eine materiefreie oder zumindest materieärmere Existenzform anstelle einer erneuten Menschwerdung vor und wir glauben, er hätte sich Ansprüche irgendwelcher, sei es bereits "erneut verschiedener", oder noch lebender Personen auf seinen `reinkamierten Wesenskern' verbeten!

Wenn man heute die Misanthropie und Undankbarkeit des alten Goethe als besondere Charakterschwächen hervorhebt, muß man, so meinen wir, folgendes beachten: Er hatte ein ausgeprägtes Gespür für das, was er morboses Leiden nannte, klinisch gesprochen, die inkurablen Fälle. Wie er zeitlebens eine heilige Scheu vor dem realen Tod hatte, Begräbnisse und Trauerfeiern mied, wie die Pest, so schreckte er auch vor dem Umgang mit Menschen, die den Ruch des negativ morbiden an sich trugen zurück.

Unter diesem Vorzeichen muß man seine letztliche Abneigung gegen den geisteskranken Hölderlin und den ewig unzufrieden hyperkritischen Karl Friedrich Moritz, um nur zwei seiner Dichterkollegen zu nennen, sehen. Die Vermutung liegt nahe, er hätte sich vor einer etwaigen Kontagiosität, die von derartigen Menschen und Begebenheiten ausgehen mochte gefürchtet. Wie schon angeführt befiel ihn beim Tod Schillers ein schweres körperliches Leiden. Man kann nun postulieren, daß er sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen wollte und die nicht gelebte Trauer somatisierte. Selbst als er erfahren mußte, daß sein Sohn August während einer Italienreise verstorben sei, vermied er es, dieses Faktum auch nur zu erwähnen und sprach immer nur vom "Ausbleiben Augusts". Prompt erkrankte er erneut selbst. Erlebnisse dieser Art veranlassten ihn, wieder mehr zu arbeiten, wobei er sich abwechselnd in die diastolische Kreativität der Dichtung vorwagte oder aber in klösterlich abgeschiedener, "systolischer Haltung" mit Eifer seine naturwissenschaftlichen Studien vorantrieb.

Auch als seine Frau Christiane, die an Urämie starb, in der Agonie schrecklichste Qualen erleiden mußte, blieb er dem Krankenbett ferne und mied auch den Anblick ihrer Leiche. Die feinfühlige Charlotte von Stein ordnete sogar testamentarisch an, daß ihr Leichenzug einen Umweg durch Weimar nehmen solle, um nicht an Goethes Haus vorbeizuführen. Dieser Anblick der Vergänglichkeit könnte die empfindliche Seele des Dichters traumatisieren! Hierin, in der Tabuisierung von Tod und Sterben, möchte man ihn als Vorläufer unserer gegenwärtigen Haltung zu diesem Thema ansehen. Denn auch wir sehen bei hunderten von Morden und dramatischen Todesfällen via TV zu, werden aber mit dem realen Sterben in der Regel nicht konfrontiert. Genauso gelang es Goethe, seine Todesfurcht in Dramen und Romane umzumünzen, also die morbosen Anteile seines Charakters stückweise mit seinen tragisch scheiternden Existenzen in Literatur und Theater auszuagieren. Wohl ist es auch dieser steten Vermeidungsstrategie zuzuschreiben, daß seine Agonie denn schreckliche drei Tage währte und sein eigenes Sterben von großer Angst und Unruhe geprägt war. Der Saturnring zog sich enger um die Brust des alten Geheimrates. Nach mehreren schweren Angina pectoris Anfällen kam es wohl am 20.3.1832 zu einem zweiten Infarkt, von dem er sich nicht mehr erholte. Allerdings, so berichtet Kanzler Friedrich Müller, war nicht die geringste Todesahnung in ihm, als er zwei Tage später gegen 11h30 starb. Seine letzten Worte galten allerdings, der Legende zu Trotz, nicht dem Licht, sondern entsprangen dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, im Sterben nicht allein und verlassen zu sein. Er bat seine Nichte, ihm in den letzten Augenblicken beizustehen und seine Hand zu halten: "So mein Kindchen, nun gib mir mal dein Pfötchen..."

Anmerkungen

Literaturverzeichnis:
Quellen:

Anschrift des Verfassers:
Bernd Hertling
Heilpraktiker
Nettelkofener Str. 1
85567 Grafing

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Naturheilpraxis 11/99