FACHFORUM

Traditionelle chinesische Medizin und moderne westliche Medizin

Die Erkenntnissysteme der Traditionellen Chinesischen Medizin und der Modernen Westlichen Medizin: warum ist ihre Krankheitsbeschreibung unterschiedlich? Ein ideenggeschichtlicher Abriss

von Ch. Kunkel

Wer Prof. Manfred Porkerts Beiträge zur Chinesischen Medizin kennt, dem sind die Begriffe kausal-analytisch und induktiv-synthetisch geläufig. Es ist geradezu ein Kennzeichen deutschen Nachkriegsgeschichte, der 60er Jahre, des physikalischen Zeitalters, das Prinzipielle, das Grundsätzliche, das begrifflich Übergreifende, das Systemverbindende, also das Abstraktum herauszuarbeiten. So ist es kein Zufall, daß wir in der Porkert'schen Schule-Kind jener Zeit - eine begriffliche bis in die sprachliche Entfremdung hineingetriebene Stringenz unter Rückführung auf die Universalsprache der Lateiner erleben. Und ebenso wirklichkeitsfern manchem die Abstraktion in diesen beiden Begriffen gelungen erscheinen mag, ist es genauso gewagt, umgedreht die historische Ableitung der Begriffe "Kausal-Analyse" und "Induktiv-Synthese" zu versuchen. Zunächst zur Begriffsklärung: Porkert beschreibt die Verfahren unterschiedlichen Realitätszugangs zweier Wissenschaften. Das eine System, "unser System", das der modernen westlichen Medizin benutzt die kausalanalytische Beschreibung der Natur, fußt auf dem Zentimeter-Gramm-Sekunden-System und beschreibt Ursache und Wirkung in einer zeitlichen Abfolge als ein Hintereinander von Ursache und Wirkung. Eine Ursache erzeugt eine Wirkung. Eine zunächst momentane Wirkung wird erst dadurch sichtbar, dass sie in die Vergangenheit "zurückgesunken" sich materialisiert. Ein Beispiel aus der Medizin: Ein Junge erkältet sich in der kalten Winterluft, die ersten Prodromi seiner Krankheit sind rote Bäckchen, fließende Nase und Gliederschmerzen: eine Grippe ist im Anmarsch. Diesem flüchtigen, oberflächlichen Krankheitszustand der Erkältung entsteht durch Einfluss von Außen. Nachts hat der Junge Fieber und entwickelt die nächsten Tage eine Lungenentzündung: im Röntgenbild zeigt sich eine Anschoppung, der Arzt hört die charakteristische crepitatio indux, er verschreibt vielleicht ein Antibiotikum. Das Antibiotikum bezieht sich auf die materialisierte Erkrankung. Natürlich ist dem Kollegen der zeitliche Vorlauf nicht verborgen geblieben und er hätte als naturheilkundlicher Hausarzt vielleicht gleich zu Anfang Echinacin verschreiben und eine Schwitzkur verordnen können. Da die Krankheit jedoch noch nicht "greifbar" war und er nicht zu Mitteln mit zweifelhafter oder nur unspezifischer Wirkung greifen will, wartet er zu.

Induktiv-synthetisch nennt sich der Erkenntnismodus, der aus dem gleichzeitigen Bestehen mehrerer Faktoren zu einer zusammenfassenden Beurteilung des momentanen Zustands gelangt. Auch aus diesem Kausalsystem ist natürlich der zeitliche Faktor nicht eliminierbar; denn jedes Geschehen hat nun einmal eine zeitliche Abfolge. Indes legt der Chinesische Arzt seinen Schwerpunkt bei der Beschreibung auf das Vorhandensein von Zeichen, Bezüglichkeiten, die gerade wegen ihrer Gleichzeitigkeit, ein Muster bilden, was aber nicht unbedingt einer festgefügten körperlichen Ausprägung entsprechen muss, sich aber doch zeigt. Ob es nun bei dem Jungen mit der der Grippe im Anfangsstadium um einen schwimmenden Puls, leichte Röte der Wangen und die oben beschriebenen Zeichen handelt oder um psychische Äquivalente, die in dieses Geschehen hineinwirken, stets ist es eine Bewertung des momentanen Zustandes, der zwar nicht losgelöst aus seinem lebenshistorischen Kontext, aber doch als therapierelevante Beschreibung in einer zeitlichen Jetzt-Ebene zu verwerten ist.

Woher kommt das eigentlich, dass Menschen mit dem gleichen Sinnesapparat Erkenntnisse in unterschiedlichen Kausalsystemen ordnen? Und was macht vor allem den Unterschied in den Erkenntnismodalitäten der alten Chinesen und der modernen Europäer aus?

Es klingt fast wie die Redensart meines alten Deutschlehrers, wenn man die Konstituierung des europäischen Denkens aus den Ideen, der Gedanken- und Glaubenswelt der mediteranen Antike des Griechen- und des Judentums ableitet. Und hier ist in der Tat eine wichtige "Wurzel" unseres für die Naturwissenschaft relevanten philosophischen Denkens zu suchen. Gerade im späthelinistischen Judentum, welches sowohl schon vom Christentum durchdrungen wird, aber unverkennbar der überlegenen, hochmoderen griechischen Philosophie anhängt, gleichzeitig aber auch immer noch im alten jüdischen Glauben gebunden ist und damit auf das Kommen des Messias hofft, findet dieses seine Ausprägung. Im Schmelztiegel dieser Schwellenzeit wandelt sich unter der Katalyse der Philosophie die Metaphysik. Die eigentliche Ursache für das kausale Denken im Sinne des kausal-analytischen Ansatzes ist die Messiasertwartung der Juden. In dieser Zeit tritt der Hellenismus aus seiner zyklischen Geschichtsauffassung heraus; und bildet das säkulare Grundmuster, vor dessen Hintergrund die wichtigste Frage eines gläubigen Juden philosophisches, philologisches (aristotelisches) Rüstzeug erhält: die Frage aller Fragen: "Wann erscheint der Messias?" Gibt es sichere zeitliche Zeichen und Hinweise dafür, die eine Prognose über sein Kommen ermöglichen? Aus diesem ins Transzendentale hinein fließende Folgern entwickelt sich letzten Endes die zwingend zeitliche nach vorne folgernde Logik, das zeitlich gewichtete Erkenntnisinteresse unseres Denken. Die Mischung aus aristotelischer Logik und jüdischer Messiasertwartung, folgert die Macht göttlichen Wirkens in Mensch und Geschichte ausmacht, erkennt nun gläubig und analytisch. Dieses ist Ausdruck einer Zukunftserwartung, die nicht ökonomischer als in zeitlichen Abfolgen arrangiert werden kann, um dadurch als Indiz für das zu erwartende Erscheinen des Messias gewertet werden zu können. Diese wird auch die Basis des christlichen Denken mit seinem mittelalterlichen Analogiedenken. Dazwischen liegt aber die Katastrophe der "Völkerwanderung" in der das römische Verwaltungssystem - anders als das chinesische in ähnlichen Phasen - es eben nicht vermochte, den Zusammenbruch der geistigen und materiellen Wege von den mediteranen Zentren zur transalpinen Peripherie aufrecht zu erhalten. Die christliche Inkulturation des germanischen Raums müht sich bis zum 9. Jh. (!) in der Überwindung des neolithisch-keltischen Denkens dar.

Ganz anders im asiatischen Raum, wo es trotz großer Migrationsbewegungen und Fremdherrschaft eine ungebrochene, unentwegt fortbestehende, im Kern, in der Zentralaussage eine noch heute gültige Weltsicht gibt: das induktiv-synthetische System, entstanden aus dem steinzeitlichen Schamanismus. Mindestens der gesamte transuralische sibirische Kultraum nebst den anrainenenden mongolischen, tibetischen und zentralchinsischen Bereichen wird vom Schamanismus, wenn man Mircea Eliade Glauben schenken darf, geprägt.

Kernpunkt dieses schamanischen Denkens ist, dass der Mensch, der Schamane als Mittler zwischen Himmel und Erde, - das gleichzeitige Auftreten von Ereignissen zu deuten hatte. Indem er zu dieser Synchronizitäts-Schau befähigt war, konnte er aus der Gegenwärtigkeit, aus der Momentaufnahme das Vergangene und Kommende erschauen. Durch seine Initiation befähigt, mit den Luftgeistern genauso wie mit den Erddämonen zu sprechen, verwirklicht er die Gabe des Sehertums. Er muss in einem Bild, einer Vision zusammenschauen, ob gegenwärtig viele einzelne Zeichen günstig für Unternehmungen stehen. Hierin liegt der Keim der Synchronizität gegenwärtiger Aktionen, wie es sich später in der hochempirischen chinesischen Medizin zeigt. Ob sich das nun in der Scapulomantie der alten Orakelkunst der Chinesen niederschlägt, in den großen Fruchtbarkeitsfesten, wie sie Granet in seinen Büchern beschreibt, oder überhaupt in der Konstituierung des frühen chinesischen Reiches zeigt, wo der Herr "mit den gelben Kniebinden" nach Süden schauend seinen Thron besteigt und die Lehens-Fürsten der vier verschiedenen Himmelsrichtungen, mit den Farben ihrer Region versehen, in einem Carée empfängt. Ob sich in der unterschiedlichen Produktionsphäre des Männlichen und des Weiblichen das Yin-Yan Denken gesellschaftlich manifestiert - der Schamane als Mittler zwischen Mensch und Kosmos ist die ursprüngliche zentrale Kultfigur. Als Mann, der auf die Plattform seines Welternbaumes steigt, um mit den himmlischen Kräften zu sprechen, mit Spiegelschwertern kämpft, das Erdenrund mit seiner Trommel in seine Schwingung bringt und umgedreht, sich in eine Schwitzhöhle versenkt, um die Kräfte der Erde und der Vergangenheit zu erforschen. Der dann in die vier Himmelsrichtungen, in die verschiedenen Erdregionen hineinsieht, um die aktuellen Einflüsse aufspüren und aus den momentanen Anzeichen der Natur, der Witterung, dem Tierverhalten, der Entwicklung des Pflanzenwachstums die günstigen und ungünstigen saisonalen Einflüsse herausliest. Aus diesem entwickelt sich die chinesische Kalenderwissenschaft. Ist es nicht erstaunlich, wie sich im chinesisch-sibirischen, finnisch-türkischen, ja auch im griechisch-kleinasiatischem Raum Zeichen des Schamanismus und seine Praktiken gehalten haben? Eliade hat uns dies großartig religionshistorisch übermittelt. Granet, hierin ganz E. Dürkheims Schüler, hat uns gezeigt, wie sich das im alten China der neolithischen Zeit gesellschaftlich abgespielt haben könnte. Wenn wir heute immer noch - gerade die aufgeklärten Kollegen unter uns - einen Krankheitsfall mehrschichtig angehen, nämlich einerseits aus der Begrifflichkeit abendländischer Psychosomatik heraus und gleichzeitig im Sinne der TCM energetisch, so führt das nicht selten in praxi in einen Spannungszustand, der eben darauf zurückzuführen ist, dass er diese beiden Erkenntnismodi als letztlich unvereinbar erleben muss. Indes ist das energetische Denken der Chinesen, das Denken der Energieentfaltung in zyklischen Abfolgen des Jahres keine für Europäer unlernbare Angelegenheit. Damit sie in unseren Händen nicht zur Signaturenmedizin verdirbt, ist immer wieder der lebendige Bezug zu den chinesischen Klassikern, dem Kalender, zum Klima und der Lebensgeschichte des Patienten die Grundlage aller Anamnese: ..."denn grau, Freund, ist alle Theorie."

Anschrift des Verfassers:
Zentrum für Taditionelle Chinesische Medizin
Dr. med. Christoph Kunkel
Marktstr. 24
36037 Fulda
Tel.: 0661/70522
Fax: 249323

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Naturheilpraxis 09/99