Tee - Mixtur - Verdünnung

Die Elemente, ein Denker und die Quinta-Essenzia

von Bernd Hertling

Da saß er nun. Athen war weit und hier in Pella, unter den Halbwilden, mußte er sich erst noch einleben. Der Traum von der Akademie war verweht, was aber nicht heißen mußte, daß es hier nichts zu tun gab. Die wißbegierigen Epheben fragten ihn Löcher in den Bauch und nicht auf alles wußte er eine Antwort. Vor allem quälten sie ihn mit dem Problem, was es letzten Endes war, das die Welt als Kosmos 1) zusammenhielt, damit sie nicht wieder, in den Zustand des unreflektierten Chaos zurückfiel. War das Chaos 2) tatsächlich ein öder, gähnend leerer Raum? Jedenfalls, soviel durfte er als gesichert nehmen: Es war. Hatte Teil am Sein. Das Sein konnte nicht von außen in diesen Ur-Grund hineingetragen werden, sondern mußte sich aus und in ihm konstituieren. Und schließlich, nach aller gesicherten Erkenntnis, hatte sich ja das materielle Sein - natürlich unter göttlichem Zutun - entwickelt und in mehr oder weniger greifbaren, nachvollziehbaren Elementen manifestiert. Er kannte die Schriften zur Physik des großen Empedokles 3), jenes Wundermannes und Denkers in einem, der schließlich, zumindest in den Augen seiner Anhänger, selbst zum Gott geworden war. Er kannte auch die Schriften der Hippokratiker, die sich bemüßigt fühlten, kaum daß ihr glorifizierter und verehrter geistiger Ahnherr und Ziehvater aus dem Leben geschieden war, der von ihm hochgehaltenen Lehre von den Vier Elementen, noch Vier Körpersäfte hinzuzufügen. Trefflich hatten sie, eine Vierheit in allen Seinsebenen vorgegeben gefunden, diese auch auf die Krone der Schöpfung, den Menschen, extrapoliert. Wie sich die, die Natur durchwaltenden Hauptgötter, die wesentlichen Qualitäten des Seins als eine 12-zahl präsentierten, also die zugrundeliegende dynamische Dreiheit in die Vollständigkeit und Harmonie der Kräfte symbolisierende Vier ausfaltete, so durfte, ja mußte förmlich auch der Anthropos an dieser Vierheit teilhaftig sein. Schließlich war er ja gleichermaßen den rohen Bildungskräften der stofflichen, materiellen Natur unterworfen, als auch vom göttlichen Atem durchweht. Schon der Begründer der Vier-Elementen-Lehre, besagter Empedokles, hatte etwas postuliert, was noch jenseits der Elemente liegen mußte. Manche nannten es, unglücklicherweise, wie er meinte, Pneuma was doch allzusehr an eine Funktion des Luft-Elements, nämlich die, zu erfrischen und zu kühlen erinnerte. So sahen es auch die naiven Traditionalisten und glaubten an die alte Mythe in buchstäblich realistischem Sinne, daß bei Erschaffung des Menschen durch die Tat des himmelsstürmenden Titanen Prometheus, es doch Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, der Handwerkskunst und des Ingenieurswesens, gewesen war, die ihm mit ihrem Odem den Geist eingehaucht hatte. Dies sollte ihn eigentlich im entsprechenden Alter zu selbstverantwortetem Handeln motivieren. Dieser Hauch, so meinten sie hielt die Materieanhäufung aus Knochen, Fleisch und Säften, die den Anthropos sinnlich wahrnehmbar konstituierten zusammen. Dieser Odem, so meinten sie, trage zu seiner Aus-Bildung bei, mache ihn zu einem nützlichen Glied der Sozietät oder fehlgehenderweise, schlichtweg zum Idioten 4).

Also der Anthropos aus Vier Säften - und Vier Elementen, die sich in den Säften manifestierten - zusammengesetzt zum Ganzen und dabei gleichzeitig teilhaftig am Götterhauch Vernunft. Inmitten einer Welt, die ihrerseits aus denselben Elementen errichtet war, die ein namen- und interesseloser Demiurg, ein kleiner Gott, der sich alsbald aus seiner Kreation zurückgezogen hatte, den ihr immanenten Gesetzmäßigkeiten unterworfen hinterlassen hatte. Auch ohne speziellen göttlichen Auftrag erkannte der Anthropos schließlich diese Gesetze, die die Welt durchwalteten - so glaubte er jedenfalls in seiner Hybris - und ging daran, sich unter Ausnutzung dieser Gesetze, die Welt zu unterwerfen: Real dinglich einerseits, durch Bändigung der Elemente und ihrer Urgewalten, doch auch geistig andererseits, indem er daranging, sie, die sich nicht wehren konnte, die einfach nur da war, mit Gedankenmustern, warum und wozu sie so sei, wie sie war, zu erklären. Diese Gesetze hatten Gültigkeit für alles Seiende, für die bloße Materie genauso wie für den belebten Teil der Schöpfung, die Reiche der Pflanzen und Tiere. Und, das hatte er ja in seiner "Logik" lang und breit dargestellt, sie machten auch nicht Halt vor dem vernunftbegabten Wesen, dem Anthropos! Wie ein gutes Drama, eine sophokleische Tragödie etwa, unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuerte (nicht trieb!!) so vollzog sich jeder Lebensprozeß nach strengen, von der Notwendigkeit weitaus mehr als vom Zufall bestimmten Gesetzen. Denn, wo keine Gesetze, da keine Ordnung - und Ordnung mußte sein - und Ordnung war. Ein Sein jenseits von Ordnung konnte nur ein Sein vor der Ordnung, ein zurückliegendes Chaos sein. Doch darüber machte er sich lieber keine Gedanken. Vielleicht mochte dermaleinst eine Zeit kommen, die sich mit solcherart abwegigen Themen, wie der Erforschung des Chaos, befassen würde, wer mochte das sicher wissen? Er selbst stellte diese Erwägung von Grund auf in Abrede, schließlich würden bei jedem Versuch, das Chaos zu analysieren nurmehr Zufallskriterien heranzuziehen sein - und wer befaßte sich schon gerne mit derart abwegigem Gedankengut? Nein, er wahrte in der Regel Neuerungen gegenüber lieber eine gewisse Skepsis und zog es vor zu sammeln und zu katalogisieren.

"Aufgabe des Weisen ist es, zu ordnen", pflegte er, zu derlei Dingen gefragt, zu antworten.

Er schüttelte die langen, wohlgetrimmten Locken und strählte sich den am Kinn gegabelten Bart. Das weiße Band, das er um die Schläfen trug, hatte sich voll Schweiß gesogen und klebte lästig an der Stirn. Würde er dem ersten Impuls nachgeben, das Wollgeflecht mit dem Finger kurz auszudehnen, drohte unmittelbar darauf ein salziges, brennendes Rinnsal vom Scheitel her in die Augen zu fließen - dann nicht mehr nur lästig, sondern auch schmerzhaft und die Gedanken vereinnahmend ablenken. Ihm war der Kapillareffekt der Pflanzen vertraut und so baute er darauf, daß sein Wollband sich zuerst vollsaugen würde, ehe der Strom des Schweißes der anders zusammengesetzten Oberfläche seiner Stirn weiter hinabfolgen würde. Er würde noch Zeit haben, sich einen schattigeren Flecken zum Nachdenken zu suchen.

Ja, das mochte sich alles so verhalten: Vier Elemente, Vier Qualitäten, Vier Säfte, Vier Charaktere bestimmten das Wesen des Menschen. Aber welche Kraft hielt sie zusammen? Durchdrang sie ordnend? Die weitere Erklärung des Empedokles, es gäbe ja die Elemente vor den Elementen, also die Elementarteilchen, die in ihrer unsichtbaren Winzigkeit nach den entsprechenden Mischungsverhältnissen die Materie gestalteten, mochte er so nicht hinnehmen. Was also hielt auch diese kleinsten Teilchen im Fluß, was ordnete ihre Mischungsverhältnisse sinnvoll zur Eukrasie? Er seufzte, nicht nur wegen der Hitze, könnte er sich nur der simplen Erklärung, es sei der Odem der Göttin anschließen. Sollte es der Schöpfer selbst sein? Wohl nicht! Schließlich hatte er sich aus der Welt entfernt und sie sich selbst überlassen. Sie mußte sich, wie der beseelte Mikrokosmos Anthropos, selbsttätig in der Harmonie der Eukrasie halten können. Soweit hatte er auch die Hippokratiker verstanden, daß sie sich nicht anmaßten, göttergleich dem Leben ins Handwerk zu pfuschen. Sie sprachen höchstens von Selbstheilungskräften, die anzustacheln ihre Therapie vermochte. Ihnen war bewußt, daß sie gegen die Natur nichts würden ausrichten können. Doch was war es, was sie mit ihrer Heilkunst anrührten? Was ordnete und regelte da im "System Anthropos"? Hier war er wieder bereit, Empedokles zu folgen, der lehrte, daß aus Nichts nur wieder Nichts werden könne, mit anderen Worten, das Nichts nicht war. Genauso stimmte er ihm zu, daß es kein Leeres gab, daß Alles erfüllt war von Etwas. Auch die Räume zwischen den kleinsten Elementarteilchen waren erfüllt, nicht leer und schon gar nicht `Nichts'! Dennoch entzogen sie sich der empirischen Forschung. Soweit wollte er Empedokles recht geben, daß die unsichtbaren Kräfte von Liebe (philia) und Haß (neikos) die Mischung der Elemente bewirkten, doch folgte er ihm, der ihm hier zu anthropozentrisch dachte, nicht nach. Aber, diesen beiden Emotionen sagte man nach, sie seien besonders vom Feuer durchwaltet, sie würden besonders heiß brennen - das war es! Etwas, das durch ein heißes Feuer verschmolzen wurde ging eine, wenn schon nicht unauflösliche, aber doch nur schwer trennbare Verbindung ein. Also lag zwischen den Elementen eine Kraft, die sie, so als ob sie verschmolzen wären zusammenhielt, sie wie ein dreidimensionales Netz durchdrang und alles - nicht mehr und nicht weniger - darin gefangen hielt! Als Gegenprobe für die Verschmelzungstheorie boten sich Beobachtungen am Himmel und im Wasser an. Hier herrschte eine gewisse willkürliche, anarchische Tendenz mit einer nahezu unmöglichen Prognosestellung vor. Im Wasser mit seinen Strudeln, Wirbeln und Strömungen leuchtete ihm diese Beobachtung noch ein, war es doch zuunterst angelagert, trug die Erde auf seinem Rücken und brachte sie durch Fluten und Beben durcheinander. Die Luft, eigentlich dem Oben, dem Feuer und dem Licht zugeordnet, nahe am Edlen, verhielt sich bisweilen genauso: Unvorhersehbar, anomal vollzogen sich auch hier Wirbel und Strömungen, Wolkenbildungen und Wetter. Immer war das Wasser mit im Spiel, jenes anpassungsfähige, jede äußere vorgegebene Form annehmende, Element und gerade hierbei mangelte es an morphogenetischen, bleibende Strukturen und Formen schaffenden Kräften.

Ausgehend von den drängenden Fragen des Zusammenhalts der Elemente hatte er unter Aufstellung des Postulats vom horror vacui die Notwendigkeit eines fünften, alles durchdringenden, feinstofflichen unsichtbaren Prinzips, einer universalen Dynamis erkannt. Und so beschloß Aristoteles auch in der Technologie sich an Empedokles anzulehnen und nannte diese Quinta Essentia, die nach den Vorstellungen seiner Zeit besonders edel sein mußte, da sie von den vorangegangenen Denkern zunächst nur ihren Platz oberhalb der Feuersphäre des Himmels zugewiesen bekommen hatte und erst infolge seiner Theorie, das All in seiner Gesamtheit durchdringen durfte und es eigentlich erst mit diesem Schritt zum Kosmos erhob, Aithér. Zufrieden mit sich und der Welt ging er ins schattige Haus, das Gedachte aufzuschreiben.

Anmerkungen:
1) Dem Prinzip Kosmos liegt immer eine Ordnung zugrunde, denn nur in der strukturierten Ordnung vermochte der Grieche Ästhetik zu erblicken. Interessanterweise finden wir ja auch in den graphischen Darstellungen scheinbar chaotischer Systeme die ästhetisch ansprechende Form des Mandelbrot'schen `Apfelmännchens'. Ich hoffe, es wird hieraus klar, daß hier keineswegs die Forscher des Chaos verunglimpft werden sollen - nur die Antike war dafür eben bar jeden Verständnisses...

2) Das Substantiv Chaos leitet sich tatsächlich von chaein, gähnen her. Gemeint ist damit dasselbe wie mit dem hebräischen Wort Tohuwabohu.

3) Empedokles von Akragas (495 - 435 v. Chr.) lebte in Südsizilien. Wohl eine der schillerndsten Gestalten der an Originalen gewiß nicht armen griechischen Philosophiegeschichte, war er exakter Physiker und schwärmerischer Mystiker in einem. Man könnte diesen Vorsokratiker als faustische Person bezeichnen, der die beiden Seelen in seiner Brust und die großen Theorien, der Eleaten einerseits und Herkleitos andererseits unter einen Hut zu bringen versuchte. Bekannt durch die Einführung der Vier-Elementen-Lehre und verblüffende physiologische Beobachtungen. Als Herr der Elemente und der Geister, als herumziehender Heiler mit ekstatisch priesterlichem Auftreten findet er schließlich im Wahn, ein Gott zu sein, den Tod beim Sprung in einen Vulkan.

4) Unser Wort Idiot ist dem Griechischen entlehnt, wo Idiotes folgendes bedeutet: Ein Mensch, der nach seinen eigenen Vorstellungen und Eigengesetzlichkeiten, die für andere nicht nachvollziehbar sind, lebt. Auch heute sagt man ja, wenn die Ansichten eines Zeitgenossen eher verquer gehen statt konform, er sei eigen.

Anschrift des Verfassers:
Bernd Hertling
Nettelkofener Str. 1
85567 Gräfing

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Naturheilpraxis 01/99