Dr. Aigremont/Hrsg. Christian Rätsch:
"Volkserotik und Pflanzenwelt"
Reprint Bände 1+2; Historische Materialien Bd. 7, Verlag für Wissenschaft und Bildung (10969 Berlin, Besselstr. 13) 286 Seiten, Hard-cover, 2 histor. Abb., DM 48,--



"Der Generationenakt des Menschen verkriecht sich wie ein Dieb" - so die Einschätzung Schopenhauers von der schuldhaften Bejahung des Willens zum Leben und zur Liebe, dem erkenntnislos gewisse Organe Folge leisten. In diesem Sinne stehen Volkserotik und Pflanzenwelt, im blinden Gehorsam zur Natur, auf einer Stufe. Hierin bestätigt sich auch der Schlußsatz des Vorworts seitens des Herausgebers unerwartet mit anderem Gewicht: "Wenn sich der Mensch", so schreibt Dr. Rätsch, "in den Pflanzen, den Lebewesen seiner Umwelt, wiederfindet, kann er zum Bewußtsein vom Kreis allen Lebens zurückfinden." Also doch, das Rad von Geburt und Tod (Swastika) dreht sich, durch Zeugung und Erbsünde angetrieben, unaufhörlich weiter. Das Leiden ist vorprogrammiert. Insofern bekommt Schopenhauers dogmatischer Pessimismus einen natürlichen Auftrieb. Die Etymologie der Pflanzennamen spart dann noch aus weiteren Gründen diesen Bezirk vorsorglich aus. Was vom Volk (vulgus) hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wird, ist unwissenschaftlich, somit "vulgär". Aber das umfangreiche Buch macht in seinen zwei Bänden auch deutlich, daß die "anstößige" Begrifflichkeit einer einzigen gemeinsamen Wurzel entsprungen sein muß, nämlich dem magischen Fruchtbarkeitszauber, der sich aus der Pflanzenwelt die Anregungen für das Fruchtbarkeitsritual holt. Die überkommenen Begriffe sind demnach nur noch die vom Bewußtsein übrig gelassene Schale, auf die der Spießbürger zur Zeit der Erstveröffentlichung (1907 - 1910) aus Gründen des guten Rufes verstohlen trat, um sie vor fremden Augen zu verstecken, während der von visueller Sinnlichkeit Überfütterte, im Herzen aber ebenso prüde gebliebene, von prallen Busen Bedrängte der 90er Jahre, über die schal gewordenen Begrifflichkeiten witzelt, oder sie unauffällig, wie eine schiefgefaltete Straßenzeitung, in den Mülleimer der Kultur steckt. Mit wenigen Ausnahmen, z. B. im Falle der "Revolutionärin" Hildegard von Bingen, die Jeanne d'Arc der Medizin, die im Buch u. a. erwähnt wird, stimmt es immer, sogar von Amts wegen: nur im Dunkel der Nacht oder im Verborgenem fühlt sich die Metaphysik der Liebe und - im Menschen - das perpetuum mobile der Naturkraft sicher. Zieht man die sexualbegriffliche Vorstellungsgabe dem Leser ab, oder überträgt die einschlägigen Wörter zur Vervollständigung in ein anderes kompetentes Werk, bevor man sie dann löscht, bleibt vom Band 1 und Band 2 wenig übrig, bis auf ein paar empirische alte Rezepturen. Ein einzelnes Beispiel bildet sich aus dem Gebrauch des Schierlings (Conium maculatum). Er wird in Band 2 auf Seite 48 beschrieben und könnte sogar zum Gegenspieler der aufweckenden "Viagra-Pille" avancieren, wäre also in kürzester Zeit ein echter Renner, freilich nur bei fein abgestimmter Dosierung. Ein ganzer Becher voll des dämpfenden Extrakts wäre, so lehrt die Geschichte, aber zu viel des Guten. Details über die äußere Anwendung müssen an besagter Stelle nachgelesen werden. Klammert sich der Rohling an das Gedruckte, so lächelt der Eros dennoch zwischen den Zeilen hindurch, wie auch in diesem Sammelband, der mit puristischem Eifer die vielen Fakten sauber zusammenhält. Dies muß kein Widerspruch sein. Das Buch ist sauber verarbeitet, die Systematik ist sauber durchdacht und das Namensregister hinterläßt einen mehrfach gereinigten Eindruck, als wäre es der Natur nachempfunden, die so manchen Degenerationsgeruch und Großstadtmief mit frischem Wind am Ende beiseite fegt.