Ein homöopathisches Patientennetzwerk im Herzogtum Anhalt-Bernburg

Die Familie von Kersten und ihr Umfeld in den Jahren 1831-1835

In: Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte, Bd. 11

Jens Busche

Stuttgart: Haug 2008, 198 S., 8 Abb., geb., € [D] 49,95 / € [A] 51,90 / CHF 82,90

ISBN 978-3-8304-7285-8

aus Naturheilpraxis 04/2010, S. 458 ff

Auch dieser Band der Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte entspringt einer medizinhistorischen Dissertation. Dr. med. Jens Busche analysiert verfügbare Daten von vier zur Adelsfamilie von Kersten gehörigen Patienten, die bei Hahnemann in Behandlung standen. Es sind dies der Präsident der Herzoglich Anhalt-Bernburgischen Regierung Friedrich von Kersten, seine Frau Frederike von Kesten, geborene von Schlotheim, die Tochter Rosalie und die Schwester von Frau Kersten, Julie von Schlotheim. Anhand von Briefen mit Notizen, die Hahnemann zufügte sowie Eintragungen in den Krankentagebüchern geht Busche den Fragen nach, inwieweit Hahnemanns Therapieregime seinen Publikationen entspricht, wie er sich zu anderen Therapeuten der Familie verhält und welche Einflüsse sich auf die Verbreitung der Homöopathie im Herzogtum Anhalt-Bernburg erkennen lassen.

Nach der Einleitung und einer Kurzbiographie Hahnemanns mit einem Schwerpunkt auf seine Praxistätigkeit in Köthen wird eine biographische Skizze zur Familie von Kersten vorgestellt. Dabei wird ein interessanter Einblick in das gesellschaftliche Leben der Oberschicht vermittelt. So seien bei den sogenannten „Kränzchen“ der Damen die Themen Krankheit, Tod und Fragen zur Körperlichkeit wichtiger Gesprächsstoff gewesen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Krankenpflege Domäne der Hausvorsteherinnen war und diese sich mit der Selbstmedikation auseinandersetzen mussten, was auch eine Beschäftigung mit der Homöopathie zur Folge gehabt habe.

Das daran anschließende vierte Kapitel widmet Busche der Diätetik in Hahnemanns pluralistischem Therapiekonzept. Er hält fest, dass Hahnemann der hippokratischen Tradition folgte. Er zitiert Aussagen zur Diätetik in Hahnemanns publizierten Schriften und Briefen und stellt sie den Therapieanweisungen, die nur aus den Krankentagebüchern der Familie zu erschließen sind, gegenüber. Er geht auch auf die unterschiedlich Bewertung der Diätetik für den Therapieerfolg ein, da diese von Kritikern der Homöopathie gerne als der einzig wirksame Therapiebestandteil angesehen wurde.

Das fünfte Kapitel beginnt mit einer gerafften Darstellung der Krankengeschichten der Familienmitglieder. Daran anschließend bearbeitet Busche die folgenden Fragen: Was das Arzt-Patienten-Verhältnis auszeichnet, analysiert Busche anhand Hahnemanns Vorgehen bei der Anamnese und Befunderhebung, der Häufigkeit der Konsultationen, der Therapietreue der Familie, inwieweit Arzneimittel ohne Anweisung von Hahnemann eingenommen wurden, ob äußere Anwendungen und nicht-homöopathische Therapien mit Wissen Hahnemanns oder durch ihn selbst verordnet wurden, in welcher Weise die homöopathische Arznei eingenommen wurde, wie Medikamentenserien, Placebo und wenig geprüfte Arzneimittel eingesetzt wurden, welche Therapiekosten entstanden und in wieweit andere Ärzte in Hahnemanns Praxis an der Behandlung mitwirkten.
Als letztes betrachtet Busche homöopathische „Fremdtherapien“ durch den Kammerpräsidenten von Braun und Dr. med. Würzler bei den von Kerstens. Von Braun habe als Vertrauter der Familie nicht nur den Erstkontakt zur Homöopathie geknüpft, sondern auch als Laienhomöopath in akuten Krankheitskrisen die Familie mit Wissen und Unterstützung Hahnemanns behandelt.

Eine Zusammenfassung und ein Anhang mit Transkriptionsrichtlinien, eine Erläuterung der von Hahnemann verwendeten Abkürzungen, eine Übersetzung der lateinischen Begriffe und tabellarische Übersichten, unter anderem zu im Buch genannten Personen und zur Chronologie von medizinischen und diätetischen Verordnungen sowie einem Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis und ein Personenregister runden das Buch ab. Die transkribierten Quellen sind nicht im Buch abgedruckt, können aber von der Homepage des IGM (www.igm-bosch.de) heruntergeladen werden durch Anklicken der Schaltfläche „Digitalisierte Texte“ unter „Varia“.

In seinen Ausführungen stellt Busche unter anderem fest, dass sich Hahnemann bei der Behandlung der Familie von Kersten in weiten Teilen an die von ihm in Publikationen aufgestellten Therapierichtlinien hält. Er hebt die Bedeutung der Anweisungen zu Diät und Lebensführung positiv hervor. Dennoch nehme Hahnemann sich die Freiheit, seine Postulate am Patienten zu überprüfen. So setze er auch wenig geprüfte Arzneimittel wie z.B. Psorin ein.
Auch wenn Busche Aussagen zur Wirksamkeit der homöopathischen Behandlung durch Hahnemann nur mit Einschränkungen wagt – er stellt fest, dass eine Beurteilung des Erfolgs der homöopathischen Behandlung anhand der bearbeiteten Quellen nur begrenz möglich sei –, sollten sie diskutiert werden.

Busche kommt zu dem Ergebnis, dass Hahnemann bei der Behandlung der vier Personen zwar zum Teil mit Verschreibungen bei akuten Erkrankungen Linderung verschafft habe, eine erkennbare Verbesserung des Gesundheitszustandes (d.h. der chronischen Beschwerden) nicht erkennbar sei oder zumindest keine gänzliche Heilung erreicht werden konnte. Im Falle der Besserung bei Friedrich von Kersten führt er neben einer Wirkung durch die Medikation das intensive Arzt – Patienten-Verhältnis an. In der Therapie von Julie von Schlotheim stellt er die Wirkung des Arztes Hahnemann heraus. Die beobachtbare positive Resonanz mit Besserungszeichen zu Beginn der Therapie begründet er insbesondere mit der Erwartungshaltung der Patienten und einem selbstreflexiven Moment durch das Führen eines Krankentagebuchs.
Diese von Busche als Alternative zur Arzneimittelwirkung angeführten Effekte sind unbestritten. Aus Sicht moderner Medizintheorie sind sie für die Salutogenese1 wichtig, zusammen mit diätetischen Vorgaben, einer Ordnung der Lebensführung und auch einer Medikation. Für den Rezensenten entsteht der Eindruck, dass Busche die Bedeutung der Medikation in den Hintergrund treten lässt. Es stellt sich die Frage, welche Wirkung diese Positionierung in der Diskussion zur Wirksamkeit der homöopathischen Arzneimittel haben wird. Zugegeben lässt die Medikation Hahnemanns in der vorgestellten Kasuistik keinen deutlichen und dauerhaften Effekt erkennen. Diesen Schluss aus lediglich vier Behandlungsverläufen auf die Homöopathie insgesamt zu übertragen wäre jedoch fatal. Es ist zu bedenken, dass Hahnemann am Anfang einer neuen Therapieform stand. Unzulänglichkeiten sind hier immanent. Hinzu kommt der Forschergeist Hahnemanns, dem Experimente und Fehlkuren geschuldet sein mögen. Sind gut ausgebildete Homöopathinnen und Homöopathen heute in der Lage bessere Behandlungserfolge vorzuweisen? Auch wenn es einigen Homöopathen als Hybris erscheinen mag, es ist tatsächlich so. Mit der erweiterten Kenntnis von Arzneimitteln, mit denen seit 200 Jahren in homöopathischer Anwendung Erfahrungen gesammelt werden konnten, einer guten Ausbildung in den Grundlagen der Homöopathie und modernen Werkzeugen wie der Repertorisation der Symptome mit Hilfe eines Computers ist dies möglich. Es sind unzulängliche Ausbildungen und Verwässerungen der Homöopathie durch neuartige und eigenwillige Interpretationen, die Probleme bereiten und die die Homöopathie hinter ihre Möglichkeiten zurückwerfen.

Ein weiterer Aspekt soll abschließend noch betrachtet werden. Busche bemerkt, dass Hahnemanns Notizen von den Tagebucheintragungen seiner Patienten einige Male deutlich abweichen würden. Dies könne durch den Verlauf der Gespräche bei den Konsultationen bedingt sein. Er mutmaßt mit der positiveren Verlaufsbeurteilung durch Hahnemann suggestive Impulse in therapeutischer Absicht. Dazu sollte folgendes bedacht werden. In der Praxis erleben Homöopathen sehr unterschiedliche, in sich unstimmige Patientenberichte. Einerseits berichten Patientinnen, dass es ihnen seit der Arzneimitteleinnahme sehr gut gehe. Bei der gezielten Befragung, wie es denn mit jeder einzelnen der genannten Beschwerden sei, ist dann zu erfahren, dass die Krankheitssymptomatik unverändert ist. Andererseits berichten Patienten zum Beispiel, es gehe ihnen unverändert schlecht und bei gezieltem Nachfragen stellen sie selbst überrascht fest, dass eine deutliche Besserung mehrerer Beschwerden zu konstatieren ist. Lässt sich die subjektive Wahrnehmung von Patienten alleine durch Fragen des Therapeuten ins Gegenteil verkehren oder liegt dies eher an der spontanen und reflektierten Wahrnehmung des Patienten?

Legen die angestellten kritischen Überlegungen zu den unter Vorbehalt gemachten Aussagen Busches nicht generell nahe, Mutmaßungen in einem Expertenkreis zu diskutieren statt sie in unreflektierter Form in die Öffentlichkeit zu geben? Was sind vage Aussagen wert, wenn die Gefahr besteht, dass sie falsch ausgelegt werden können?

Jens Busche ermöglicht diesen kritischen Diskurs mit seiner medizinhistorischen Untersuchung. Es stellt sich jetzt die Frage, ob es künftig nicht vorzuziehen ist, Aussagen zur Sache nur soweit zu machen, wie sie sicher und ohne Einschränkungen gemacht werden können. Für Mutmaßungen bleibt der Diskurs in einem Expertenkreis. Die Einfältigkeit, mit der die Diskussion um die Wirksamkeit der Homöopathie von Kritikern gern geführt wird, legt es nahe, sich mit dieser Forderung näher zu befassen.
Unbestritten bleibt, dass Busche in seinen Ausführung deutlich macht, dass Hahnemanns Konzept der Homöopathie den Anforderungen an eine Therapie des 21. Jahrhunderts im Sinne der Salutogenese im Ansatz entspricht. Das sollte alle Homöopathen motivieren, Homöopathie als eine zeitgemäße Therapie mit den entsprechenden Anforderungen an sorgfältige Dokumentation unter Einbeziehung moderner medizinischer Aspekte verantwortungsbewusst zum Wohle der Patienten zu praktizieren.

Die Dissertation von Jens Busche wurde mit dem Hans-Walz-Förderpreis des Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung ausgezeichnet. Klaus Holzapfel hat die Laudatio bei der Preisverleihung am 2. Dezember 2005 gehalten, die in der AHZ 2006; 251: 194-197 abgedruckt wurde und von der Homepage der Robert Bosch Stiftung (www.bosch-Stiftung.de) unter Hans-Walz-Stiftung heruntergeladen werden kann.

Anmerkung:
1 Salutogenese (d.h. Gesundheitsentstehung): „Dem Begriff der Pathogenese als Krankheitsentstehung und Krankheitsentwicklung muss der Prozess einer Salutogenese […] gegenübergestellt werden […]. Das Modell von Gesundheit und Krankheit erweitert sich zu einem dynamischen System, das einen […] zwischen Salutogenese und Pathogenese oszillierenden Lebensprozess beschreibt“ (gekürztes Zitat aus dem hier besprochenen Buch, Seite 133, Fußnote 161).

Roger Rissel