„Die chronischen Krankheiten“

Hahnemanns Lehre aus Perspektive der Medizintheorie des 21. Jahrhunderts

Anne Carolin Ulrich

Edition Forschung, Hrsg.: Karl und Veronica Carstens-Stiftung, KVC-Verlag, Essen: 2007, 188 S., 9 Abb., , € [D] 16,30

ISBN 978-3-933351-67-8

Autoren gibt es reichlich, die zu den Chronischen Krankheiten Hahnemanns ihre persönlichen Ansichten mitteilen oder eine Weiterentwicklung dieses Feldes der Homöopathie formulieren. Dabei beziehen sie sich häufig auf einzelne Stellen in Hahnemanns Werk. Eine Betrachtung auf Basis der grundlegenden Aussagen Hahnemanns fehlt in der Regel. Dies führte zu den heute bestehenden unterschiedlichen Konzepten zur „Miasmatik“ in der Homöopathie. Kritiker sprechen von „Miasmensalat“.

Umso erfreulicher ist das hier vorzustellende Buch. Anne Carolin Ulrich hat über Die chronischen Krankheiten promoviert, und dank der Unterstützung der Karl und Veronica Carstens-Stiftung konnte ihre Doktorarbeit als Buch veröffentlicht werden. Ulrich analysiert erstmalig das medizintheoretische Gesamtkonzept Hahnemanns zur Entstehung und Behandlung chronischer Krankheiten und vergleicht es mit führenden medizintheoretischen Modellen des 20. und 21. Jahrhunderts. Dazu geht Ulrich zuerst auf die Medizintheorie des 18. und 19. Jahrhunderts ein und skizziert damit das Umfeld, in dem Hahnemann die Homöopathie konzipierte. Unter anderem wird der Begriff „Miasma“ in seiner historischen Entwicklung und Bedeutung vom Altertum bis heute untersucht. In einem zweiten Schritt gibt die Autorin einen Überblick über Hahnemanns Chronische Krankheiten Band 1 und fasst seine Aussagen, inhaltlich eng an das Original angelehnt, in moderner Sprache zusammen.

Hahnemanns Hypothesen werden dann in Kapitel 4 analysiert und dabei Fragestellungen bearbeitet wie:

– Sind miasmatische Krankheiten erworben oder vererbt?
– Hat Hahnemann die Scabies als Erreger der Psora angesehen?
– Ist bei Hahnemann von Unterdrückung oder vielmehr von Gestaltwandel der Krankheit die Rede?
– Was verstand Hahnemann unter Konstitution?

Weiter geht Ulrich auf die Syphilis als Modellkrankheit für Hahnemanns chronische Miasmen ein, auf Diät und Lebensführung, psychische Leiden, die Arzt-Patienten-Interaktion, auf schematische und individuelle Behandlung und vieles mehr. Das 4. Kapitel ist dadurch hochbrisant, denn er entlarvt einige vermeintliche Gewissheiten im Zusammenhang mit der Theorie der chronischen Krankheiten als unhaltbar. Dadurch wird die Lektüre dieses Buches ganz entscheidend für eine sinnvolle Beschäftigung mit den Chronischen Krankheiten Hahnemanns.

Lohnt sich die Auseinandersetzung bis zu diesem 4. Kapitel schon sehr, wird es im weiteren bei der Skizzierung medizintheoretischer Modelle zu Beginn des 21. Jahrhunderts spannend, da offenkundig wird, wie nahe das homöopathische Behandlungskonzept den vorgestellten Modellen kommt. Dieses 5. Kapitel stellt eine Herausforderung dar, denn die philosophisch geprägten Inhalte sind nicht ganz einfach zu verstehen. Eine Auseinandersetzung damit lohnt jedoch, und das wiederholte Eingehen auf wesentliche Aussagen und die prägnanten Zusammenfassungen Ulrichs sind eine willkommene Unterstützung für den Leser.

Ulrich zeigt auf, dass neben den pathogenetischen Aspekten der chronischen Krankheiten die Individualität des einzelnen Menschen mit seiner Konstitution, Disposition, Reaktivität und Immunstatus auch dessen Empfindlichkeit auf psychosoziale Ein-flüsse und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle spielen. Im „Salutogene-Konzept“ gehe es darum, die Gesundheit stärkenden Momente den krankmachenden Momenten entgegenzusetzen. Dabei sollte der Patient mitentscheiden und seine Lebensweise eigenverantwortlich korrigieren.

Die Gegenüberstellung der vergleichbaren Aspekte der Medizintheorie des 21. Jahrhunderts und Hahnemanns Konzept der chronischen Krankheiten zeigt in vielen Teilen eine verblüffende Ähnlichkeit.
Ulrich kommt zu dem Schluss, dass heute Hahnemanns Modell zur Entstehung der chronischen Krankheiten in großen Teilen als ungültig angesehen werden müsse, sein Konzept zur Behandlung chronischer Krankheiten allerdings weiterhin seine Berechtigung habe. Als geeignete Voraussetzung für den notwendigen Dialog mit Vertretern der Schulmedizin müsse ein modernes medizintheoretisches Modell der Homöopathie entwickelt werden. Hahnemanns Vorgaben zur Behandlung der chronischen Krankheiten können dafür als Grundlage dienen. Die bei einer solchen Arbeit verwendeten Begriffe sollten aus dem heutigen Wortschatz stammen, damit ein solches medizintheorethisches Modell der Homöopathie verständlich ist.

Auch wenn Ulrichs Analysen und Forderungen vielen „Miasmatikern“ nicht schmecken werden, sind sie hilfreich, um der Homöopathie einen Platz in der Medizin des 21. Jahrhunderts und für die Zukunft zu sichern.

Roger Rissel