„Die Miasmenlehre Hahnemanns“

Ortega S. Proceso

6. überarbeitete Auflage, 165 Seiten, kart., 39,95 Euro
Haug (Thieme-) Verlag, 70469 Stuttgart, Rüdigerstr. 14

Just im 250. Geburtsjahr des Begründers der klassischen Homöopathie, ist die Diskussion um die Existenzberechtigung der Homöopathie durch eine Vergleichsstudie von Aijing Shang et al. über die Qualität von 110 Homöopathie-Studien (The Lancet, Vol. 366, P. 726-732; Editorial «The end of homoeopathy») nebst den sich in aller Regel anschließenden Kommentaren neu entflammt. Das homöopathisch aufbereitete Arzneimittel in irgend einer Form beim Kranken wirken müssen, wird dadurch aber noch bestätigt. Denn das Placebo gehört ja mit zum therapeutischen Kalkül (Sucht- und Schmerztherapie, Psychotherapie) und ist oft genug Kontrollmittel in evaluierenden Studien. Das die gesamte Homöopathie nun durchgefallen sei, ist außerdem – wie dem Kommentar der Carstens-Stiftung zu entnehmen, eine undifferenzierte Behauptung. Ein Mangel an Konsens hinsichtlich der Studienmethodik wird darin beklagt; und auch die summarische Bewertung von ganz unterschiedlichen Verfahrensweisen in der Homöopathie bleibt weiterhin fraglich.

Die statistischen Mittel greifen wieder einmal nicht tief genug, um ein abschließendes Urteil über eine weltweit verbreitete Individualmethode zu fällen. Tatsächlich liegt, um diese Randbemerkung abzuschließen, der Knackpunkt nicht am Zustand der verdünnten Arznei, sondern vielmehr in der dogmatisch gepflegten Annahme, dass diese Arznei ausschließlich durch das Symptomenbild beim Erkrankten eine Identität gewinnt und eine arzneiliche Berechtigung erfährt. (Organon, §§17 ff.)

Schon Hahnemann war nach über 30 Forscherjahren am Krankenbett unzufrieden über die mangelhafte Einflußnahme seiner „Placebos“ auf die „Ur-Übel“ und schrieb in Paris: „Die Psora (Krätzkrankheit) ist es, jene älteste, allgemeinste, verderblichste und dennoch am meisten verkannte, chronisch-miasmatische Krankheit, welche seit vielen Jahrtausenden die Völker verunstaltete und peinigte...“ (Zweite, erweiterte Auflage der „Chronischen Krankheiten“ von 1828). In der Psora liegt die Causa efficienz, in der unterdrückten oder unter schlechten äußeren Bedingungen hervorgerufene Urform aller Erkrankungen, die (damals wie heute) unweigerlich in das Siechtum führt. Hahnemann gibt genügend Belege schädlicher Krankheitsunterdrückung in den Krankenjournalen an und stellte Symptome zusammen, die, zu den beiden anderen großen Geiseln: der Sykosis und Syphilis abgrenzend, auf das antipsorische Arzneimittel hinweisen.

Weiterführendes enthält Proceso Ortegas auf dem neuesten Stand gebrachte Abhandlung. Merkmale der Miasmen sind nach seiner Ansicht innere und äußere Strukturprobleme, in Gang gekommenes Prozessgeschehen, Erkenntnisaufwürfe, Symptomendefinitionen u.s.w. Schnell wird deutlich, warum Egon Fridell mit seiner Einordnung der Homöopathie als eine „Medizin der Romantik“ recht behält. Manche Gedankengänge drohen auszuufern, werden zur Existenzfrage überhöht: sogar Charaktereigenschaften, Chromosomengänge und sozial-psychisches Feedback lassen auf eine miasmatische Belastung schließen und asoziieren zum Arzneimittel. Die Totalität der Symptome entspricht der Totalität der Natur – sinngemäßes vitalistisches Credo in Ortegas Schlussfolgerungen. Geist = Natur – diese Gleichung hat allerdings Hahnemann selbst eingesetzt.

Da der Rezensent andererseits bislang keine sehnlich erwartete Jubiläums-Biographie (die von Gumpert, Fritsche oder Handley haben ihre bekannten Lücken zur maßgebenden Haehls) zu Gesicht bekam, sorgt der Beitrag des mexikanischen Arztes durch seltene wie anregende Gedanken zumindest für eine jubiläumsrelevante Verständigungsbrücke zum von der Homöopathie aufgenommenen Konstitutionsbegriff aus der Neuen und Alten Welt.

S.H.