“Chinese Medicine in Contemporary China: Plurality and Synthesis”

Volker Scheid

Ed. Duke University Press, London, 2002, Euro 76,04

ISBN: 0822328577

Wer die seit längerem geführte Diskussion um die Essenz der chinesischen Medizin heute besser verstehen möchte, dem sei die Lektüre, oder besser gesagt das Studium dieses Buches unbedingt ans Herz gelegt. Form und Inhalt weisen eindeutig die Handschrift des Akademikers auf, der gewohnt ist, interdisziplinär zu denken und zu forschen, dem die methodologischen Grundlagen der modernen Sozialwissenschaften ebenso vertraut sind wie die klassischen Schriften der chinesischen Medizin.

Jahrelange Feld- und Forschungsarbeit zur Erlangung des Doktorgrades an der Universität von Cambridge lieferten das umfangreiche Material für dieses Buch, das sich als ethnographische Darstellung und Analyse der chinesischen Medizin heute versteht. Auch wenn der weniger an theoretisch-methodologischen Überlegungen interessierte Leser, mit Erlaubnis des Autors, den ersten Teil zunächst überspringen kann, wird er in der Folge doch immer wieder auf solch grundlegende Fragen gestoßen.
Kernaussage dieser Darstellung ist, dass die chinesische Medizin in der Essenz vielfältig und heterogen war und ist und schon immer einem permanenten Anpassungsprozess – erkennbar am Erscheinen und Verschwinden bestimmter Strukturen, Techniken und Ideen – unterworfen war, der im wesentlichen von den Handlungen und Projektionen einer überschaubaren Anzahl von Akteuren bestimmt wird – Staat, Patienten, Ärzte, Studenten und der wissenschaftliche Korpus der chinesischen Medizin selbst. Jeder dieser Akteure wird zumeist mittels einer Fallstudie ausführlich dargestellt, wodurch nicht nur die Perspektive des betreffenden Agenten transparent wird, sondern auch die Vorstellung, die chinesische Medizin sei ein statisches, kohärentes und abgeschlossenes System gewissermaßen en passant relativiert wird.
Im gleichen Zug wird dem Leser vorgeführt, dass die chinesische Medizin nicht in einem luftleeren Raum existiert, sondern durch komplexe soziale, politische und wirtschaftliche Interaktionen geformt wird, die sich im Spannungsfeld zwischen der Integration von neuen Erkenntnissen bzw. dem Widerstand gegen solche Neuerungen bewegen. Als repräsentativ kann zum Beispiel die Haltung eines namhaften chinesischen Arztes gelten, der bestimmte Kenntnisse der modernen Anatomie benutzt, um auf dem Boden der chinesischen Medizin eine plausiblere Erklärung für das Auftreten bestimmter Symptome des Morbus Menière zu finden, als es das „traditionelle“ Erklärungsmuster von der Anwesenheit von Schleim liefert. In seinem Vorgehen drückt sich sehr klar aus, dass die Integration von Wissen aus der Biomedizin in die chinesische Medizintheorie durchaus einen positiven Einfluss auf die Praxis der chinesischen Medizin haben kann und dass lokale Heilsysteme mit anderen Heilsystemen interagieren können, ohne ihre Essenz aufzugeben.

Aus der Perspektive des Ethnographen und Medizinhistorikers muss denn auch jeglicher Versuch, diese Vielfalt und Offenheit der chinesischen Medizin zu verneinen, als von Ignoranz oder überzogenem Machtanspruch motiviert denunziert werden. Die im Buch sichtbar werdende komplexe Verflechtung der Interessen von Patienten, Therapeuten, Industrie und Staat schafft eine Vielfalt, auf die man seiner Ansicht nach mit einer Vielfalt von Methoden und Praktiken innerhalb der chinesischen Medizin antworten sollte. Neben dem reichhaltigen dokumentarischen Material, das direkt in den Text einfließt, sollten die ausführlichen Anmerkungen und eine umfangreiche Bibliographie nicht unerwähnt bleiben, die das Buch zu einem unentbehrlichen Referenztext sowohl für den wissenschaftlich Interessierten wie auch den Therapeuten der chinesischen Medizin machen.

Claudia Skopalik