Inge-Ellen Plattner lädt uns mit diesem Buch ein bei ihr zu hospitieren. Sie gibt uns die Möglichkeit, die verschiedensten Beschwerden, mit denen Patienten in die homöopathische Praxis kommen, mit ihr gemeinsam anzuschauen und nach einer Lösung zu suchen. Man ist verblüfft, wie phantasievoll sie ans Werk geht, wie ihr diese Phantasie hilft, zu Lösungen zu kommen. Und wie es beim "echten" Hospitieren ist, man erlebt neben dem Erfolg einer Behandlung auch Menschen, die die Therapie ohne Begründung abbrechen, oder Fälle, die tragisch ausgehen. Die Siegesfanfare "Geheilt in allen Fällen", die so oft Fallschilderungen von Homöopathen begleitet, hört man nicht. Insofern ist das Buch die Darstellung einer ehrlichen, von der Therapeutin so erlebten Wirklichkeit!
Beim Lesen der Fallschilderungen in diesem Buch drängt sich auf, daß das Handwerkszeug dieser Homöopathin selbstverständlich sowohl das Organon wie auch das Repertorium von Kent ist. Darüber hinaus hat sie eine umfassende Kenntnis der veröffentlichten Gedanken und Werke der Nachfolger Hahnemanns. Diese Beiträge gewichtet sie nach deren Bedeutung für die praktische Anwendung in der homöopathischen Therapie.
Zum zweiten schaut die Autorin wach und aufmerksam auf die hereditären Bedingungen, denen der Patient unterworfen ist. Allerdings nicht, wie das in manchen "hereditären Schulen" Brauch ist, um die Symptome mit Nosoden zu erschlagen. Sie lauscht ganz intensiv auf die vom Patienten geäußerten Befindlichkeiten und ordnet sie der hereditären Belastung zu.
Das dritte, das ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit ist, ist das analoge Denken. Diese Fähigkeit macht es ihr möglich, in den schwierigsten Fällen die Rubriken des Repertoriums zu befragen und sie anzuwenden in analoger Weise, wenn denn keine klar bestimmte Aussage zu finden ist. So kann sie unter Umständen z.B. die Rubriken des Gesichtes nehmen für Hauterscheinungen an den Beinen oder die Rubrik Herpes ringförmig für ringförmige Hauterscheinungen anderer Art - und der Erfolg gibt ihr recht!
Man erlebt bei Inge-Ellen Plattner, und dies zeigt sich auch in ihrem Buch, daß sie den Anspruch des § 153 "....um .... eine, dem zu heilenden Uebel in Aehnlichkeit entsprechende Krankheits-Potenz zu finden, sind die auffallendern, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigentheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles, besonders und fast einzig fest in's Auge zu fassen" genau erfüllt.
Daß die Autorin dies so konsequent macht und somit auch den "Kent" bei chronischen Erkrankungen sehr wohl heranzieht, gibt uns, die wir dies in mancher Ausbildung anders hörten, eine weitaus bessere Basis, zu der Eigenart einer Krankengeschichte vorzustoßen.
Mit dieser Vorgehensweise, absolut "klassisch" und doch so oft leichthin zur Seite geschoben, bereitet Plattner das Fundament, auf dem sie die Fall-Lösung aufbauen kann. Es ist faszinierend ihr dabei zuzuschauen. Vielleicht hat es sich darum so ergeben, daß Plattner sehr viel mit behinderten Kindern zu tun hat.
Bei diesen Begegnungen wurde ihr klar, daß spezifische Störungen, die diese Kinder zeigen, auch bei "normalen" Kindern zu finden sind, nur eben in einer gemilderten, abgeschwächten Form. "Normal" in diesem Zusammenhang kennzeichnet dann nur die Häufung einer bestimmten Prägung. Auf der Suche nach Hilfe für alle Kinder hat Inge-Ellen Plattner in Zusammenarbeit mit Dr. Joachim-F. Graetz einen Kinderfragebogen entwickelt. Durch Aufnehmen aller Geschehnisse, denen das kleine Wesen schon während des Wachsens im Mutterleib und bei der Geburt ausgesetzt war, versuchen die Autoren ein ganz individuelles Bild zu bekommen. Freilich ist hier besonders nach der (dispositionellen) Ähnlichkeit in der Vorfahrenschaft zu forschen - bei den Eltern, den Großeltern und so fort. Ein so kleines Kind zeigt aus sich selbst heraus nur bedingt "hinweisende" Symptome bei einer Entwicklungsstörung. Dieser Fragebogen wird im Anhang des Buches mit allen dafür in Betracht kommenden Symptomen vorgestellt. Inge-Ellen Plattner zeigt uns eine neue, erfolgreiche Art des homöopathischen Arbeitens.
Es ist zu wünschen, daß ihr Buch von vielen gelesen wird, denn es besitzt die Potenz homöopathisches Denken zu verändern! Das Werk ist gelebte Homöopathie.
Doris Eva Koch